Wandalen, Vandalen: (Ostgermanen)

------º-Asdingen

------º-Buri

------º-Lakringen

------º-Manimi

------º-Naharnavali

------º-Silingen

------º-Viktovalen

------º-Wandilier

Wandelen

Wandilier (Wandalen)

Wangionen: (Rhein-Weser-Germanen)

------º-Ouargiones

------º-Vangionen

Waräger

Warnen: (Westgermanen)

-----º-Abarinoi

-----º-Auarinoi

-----º-Auarpoi

-----º-Ouirounoi

-----º-Varinne

Wedrecii (Franken)

Wenden (Slawen)

Werziten (Slawen)

Westfalen (Sachsen)

http://www.obib.de/Schriften/AlteSchriften/alte_schriften.php?Europa/Europa.php~Text

 

 
Die Germanischen Stämme


Auch die Germanischen Stammesnamen geben der Wissenschaft noch heute Rätsel auf, da eine Vielzahl von anderen Kulturen, mit schriftlicher Geschichte, meist von den Römern, überliefert sind, die Stämme selbst sich jedoch zu diesen ihnen gegebenen Namen kaum geäußert haben.
Die Dreiteilung der "Mannus"- Stämme des Tacitus in Istwäonen, Ingwäonen und Herminonen und verschiedene "alter Gruppen", wie die Sueben und Wandilier Ende des 1.Jh. n.Chr. sind wohl die ersten historisch halbwegs zutreffenden Namen. Diese passen in das sprachhistorische Schema, das die zwei Hauptgruppen, die Nord- und Südgermanen des 2.Jh. v.Chr., ab der Zeitwende auf drei aufstockt: aus Schweden abgewanderte Nordgermanische Stämme bilden eine neue, Ostgermanische Gruppe, die Südgermanen werden in Westgermanen umbenannt. Die Stämmenamen unter dieser Aufteilung und die dazugehörigen "Völker" wechseln im Lauf der Geschichte, manche sind Namen von Kultgemeinschaften mehrerer Stämme, die später als eigener Stamm auftauchen und umgekehrt. Das zeigt nochmals, daá wir es nicht mit "Volk", sondern mit Kultur zu tun haben.


Nordgermanen

Die Nordgermanischen Sippen hielten es am längsten an einem Ort aus und mußten deshalb nicht zu eigenständigen Stämmen auswachsen. Erst die Trennung in Norweger, Schweden und Dänen im 8.Jh. n.Chr. und die spätere Unabhängigkeit Islands teilte den Altnordischen Kulturraum. Diese Teilung ist jedoch bis heute nicht tief, die Skandinavier verstehen sich nicht nur sprachlich noch heute untereinander sehr gut.


Ostgermanen

Unter die Wandilier des Tacitus rechnet man heute die aus Schweden ausgewanderten Goten und Gepiden, die eine Wandergemeinschaft gebildet hatten, ebenso wie die Burgunder und Rugier, die Wandalen, Ambronen, Hasdingen und Warnen, aber auch die Kimbern, die allerdings so der wissenschaftlichen Datierung widersprechen.


Westgermanen

Hier findet wieder eine Teilung statt, in die Weser- Rheingermanen, diese sind die Mannus- Stämme des Tacitus, wobei letztlich neben kleinen Rheinstämmen nur die Chatten, Bataver, Canninefaten und Franken namentlich überliefert sind, die Nordseegermanen, die sich aus Cheruskern, Angeln, Sachsen, Chauken und Friesen zusammensetzen, und den Elbgermanen, den Sueben des Tacitus. Diese gliederten sich in Semnonen, Sweben, Markomannen, Quaden, Alamannen, Juthungen, Hermunduren, Thüringer, Baiern und Langobarden.
Aus den Dialekten der Baiern, Thüringer, Alamannen und Franken entstand letztendlich die Hochdeutsche Sprache, aus dem Sächsischen das Niederdeutsche. "Deutsch" stellt sich somit wieder als Mischkultur heraus, und rechnet man Keltische, frühe Römische, Hunnische, Slawische, Türkische und Semitische Einflüsse hinzu, die den Stämmen in unterschiedlicher Verteilung und Stärke zugekommen sind, ist Deutsche Kultur schon im 8.Jh. n.Chr. multikulturell.
Erst die christlichen Dogmen sorgten für eine konservativere Haltung, die letztlich in schiere Angst Fremdem gegenüber gipfelte. Die Stärke der Germanischen Kultur, sich furchtlos anderen Kulturen gegenüber zu stellen und so brauchbare Elemente zur eigenen hinzuzufügen, war den "Deutschen", aber nicht nur ihnen, genommen. Der Verlust dieser Stärke, die es Germanischen Stämmen ermöglichte, sich in ganz Europa wohl zu fühlen, die Wikinger kamen gar bis Amerika, wirkt sich bis in unsere Generation aus, in der er psychopatische Reaktionen auslöst und Konfliktstoff liefert, und die zu zwei Weltkriegen während nur eines Jahrhunderts geführt haben.


 

Procopius ( Hist. Goth., IV, fragment, p.m. 241 şi 248) îi scoate pe Ostrogoţi şi pe Vizigoţi din aceeaşi Scanzia, precum şi pe Longobarzi (deci, i-a adăugat aceluiaşi fragment de istorie şi pe acesta, legat de ţinuturile locuite de Goţi). La fel procedează şi Procopius7, adăugând la ei şi alţi nenumăraţi Vandali (la Tacitus, De Mor. Germ., c. II, îi găsim sub numele de Vandalii, la Procopius şi Zosimus bandiloi, iar la Eutropius ouandaloi, cu variantele Vandeli, Vindili, Vinili, Vinuli, Winili, Winuli,,Vandilier Vandilios la Goţi  întărind că  au aceeaşi origine:  Goqoi  te  eisi  kai Bandiloi kai Ouisigoqoi kai Gepaide? ("Goţii sunt şi Vandali şi Vizigoţi şi Gepizi", Hachenberg, Orig. Germ., XIII); că Vandalii s-au adăugat celorlalţi Goţi, ne-o confirmă o sursă de mare încredere (Procop., Vandal., lib. I, lib. 1V, c. 39) - sub regele Gilimer care se bucura de o mare simpatie; el a avut sub conducerea sa întreaga progenitură a neamului şi pe cea mai nobilă; dintre scriitorii care se bucură de cea mai mare încredere este Grotius (Proleg. Hist. Goth.).

 

Les Vandales sont un peuple germanique oriental qui traversa l'Europe occidentale lors des invasions barbares pour ensuite traverser la Méditerranée et s'installer en Afrique du nord.au 5ème siècle.


The german
Wenden is known as a synonym for Slavs since the 6th century A.D. Medieval authors also used Wandali instead of Wenden/Slavs.  

The swedish kings used the title Suecorum, Gothorum Vandalorumque rex since the 16th century. These terms are survivals of the early medieval identification Wenden=Vandals.

Der Name, der in diesen verschiedenen Formen auftauchte, bedeutete die "Beweglichen" oder "Wandelbaren".

Die Vandalen oder auch Wandalen , Vandili , Vanduli , Vandali waren ein ostgermanischer Stamm.

die Vandilier: zu ihnen gehörten die Burgundionen, die Varinner, Chariner und Gutonen

die Ingväonen: zu ihnen gehörten die Kimbern, die Teutonen und die Chauken

die Istväonen

die Hermunduren: zu ihnen gehören die Sueden, die Hermunduren, die Chatten und Cherusker

die Peukinder und Bastarner.

http://wanclik.free.fr/DACIA.htm

Wandalen (Vandalen)

Hatten ihre Urheimat vermutlich in Jütland und in der Oslobucht. Es gab in Schlesien den wandalischen Kultverband der Lugier und einen von Norden her eingewanderten Stamm "wandalischer Silingen" - daher der Name Schlesien. Während der Markomannenkriege tauchten die sog. hasdingischen Wandalen an der römischen Grenze auf und siedelten dann in Ungarn. Die schriftlichen Quellen geben nicht viel her, die archäologischen Funde zeigen, dass Jütland vor dem Stoß nach Südosten ziemlich dicht besiedelt war. Siehe auch...Die Wandalen

 

Wandilier (Vandilier)

Germanischer Urstamm, laut Tacitus von einem der Mannus- Söhne abstammend.

 

Wangionen (Vangionen)

Dieser Teilstamm der Sweben überschritt 71 v. Chr., unter Ariovist, den Rhein und setzte sich beim heutigen Worms fest.

 

 GERMANIA
 

Ursprung und Lage der Germanen
(de origine et situ Germanorum)
von

Publius Cornelius Tacitus

(Herausgegeben im Jahre 98 nach der Zeitrechnung)

 


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Einleitendes Vorwort
von
Andreas J. Voigt

 

"Sine ira et studio" (ohne Zorn und Parteilichkeit) war der Leitsatz des römischen Geschichtsschreibers. In diesem Geist schrieb Tacitus dieses Kleinod an deutsch-germanischer Geschichte, die einzige aus der römischen Literatur bekannte länderkundliche Monographie und das wichtigste Zeugnis über die Altgermanen, die schon im Jahre 105 vor der Zeitrechnung (die Kimbern haben bei Arausio zwei römische Heere aufgerieben) die vierte, die germanische Weltperiode (nach Hegel, der von der orientalischen, griechischen, römischen und germanischen Welt schrieb), in der sich der WELTGEIST am vollkommensten ausdrückt, einläutete - die höchste Entwicklungsstufe der Menschheit.

Publius Cornelius Tacitus (geboren im Jahre 55 nach der Zeitrechnung, gestorben ca. 120 n. d. Zeitrechnung) war unbestritten einer der bedeutendsten antiken Historiker, dessen Wahrheitsliebe und vorbildliches Quellenstudium und Quellenkritik gerühmt wurden. Trotz seiner aristokratischen Abstammung und einer erlesenen Erziehung voller Bildung und Reichtum, war ihm das Cäsarentum verhaßt - er bevorzugte eine aristokratische Republik. Tacitus bekleidete sogar 97 n. d. Z. das höchste römische Staatsamt: das Konsulat. Im Auftrag des Kaisers bereiste Tacitus als Staatsmann und Diener Roms das Grenzgebiet Germaniens, auch deshalb der treffende und detaillierte Einblick in die ethnischen und geographischen Verhältnisse. Das Ausmaß seiner Dienstreisen ist unbekannt, aber die Genauigkeit seiner Berichterstattung zeugt von großem Verständnis dem Unbekannten gegenüber. "Germania" war für Tacitus eine notwendige Publikation von allgemeinem Interesse, denn er begriff, daß die Germanen nach Rasse, Sitte und Abstammungsbewußtsein ein zusammengehörendes Ganzes bilden, aber als vereinigtes Volk den Untergang Roms bedeuten würden - nicht zuletzt wegen der völkischen und moralischen Legitimation. Er bewunderte und fürchtete die Germanen als Herrscher der Erde zugleich - Publius Cornelius Tacitus sollte natürlich recht behalten ...

Seine Zeit war sittlich dekadent, es herrschte in Rom eine Kultur der maßlosen Verkommenheit gepaart mit unvorstellbarer Armut, eine Politik der Ungerechtigkeit, über die schon andere Großmächte der Antike gestürzt sind, von den Byzantinern bis zu den Griechen. Die Römer mit ihrer "zivilisierten" Pax Romana nannten uns Germanen die "Barbaren (andersartiges Volk) des Nordens" - da möchte man widersprechen, denn die nicht nur ethnische, sondern innere, ethische Reinheit der germanischen Seele und die Aufrichtigkeit germanischen Handelns waren auch laut des römischen Patrioten Tacitus vorbildlich, ein wenig roh vielleicht, aber nichtsdestoweniger achtunggebietend.

Hätte Rom eine Ideologie der Volksherrschaft und eine Politik der persönlichen Freiheit vertreten, wie das Thing der "Barbaren" in "Germania libera" lange vor geschriebener Zeit schon praktizierte, dann wäre das Römische Reich sicherlich noch lange von Bestand gewesen.

Zeitgenössische Kritiker in der Bundesrepublik Deutschland führen oft angebliche fehlende Objektivität auf, um insbesondere das kostbare Werk "Germania" von Tacitus zu entkräften, denn es könnte ja Stolz auf die germanische Abstammung "aufflammen" lassen, ja, vielleicht könnte dieses Werk sogar eine Liebe zu "Volk und Kultur" bei der orientierungslosen Jugend auslösen - nur so kann man die unberechtigten Vorwürfe einschätzen. In "Germania" gibt Tacitus sehr wohl seine Verachtung gegenüber derEntartung seiner Zeit kund - dies tut er auch in seinen "Historien" und "Annalen" - auch deshalb geht er mit seinen, teilweise früher geschriebenen Werken 96 n. d. Z. an die Öffentlichkeit, in der Hoffnung, sein geliebtes Rom zur Besinnung zu bringen. Die Subjektivität in Bezug auf seine Liebe zur eigenen Heimat diskreditiert dennoch keineswegs seine Objektivität Germanien gegenüber, denn Tacitus hebt germanische Tugenden hervor, ohne Schwächen und Unzulänglichkeiten zu verschweigen: Differenziert und authentisch - seine Aufrichtigkeit bleibt verbürgt!

Den Gymnasien und Hochschulen der Neuzeit, welche vor lauter Kafka, Thomas Mann und Günter Grass absichtlich oder unbewußt die wahren Literaturschätze des deutsch-germanischen Volkes verkennen, rufe ich inbrünstig zu, "Germania" von Publius C. Tacitus wieder flächendeckend auf den Lehrplan zu setzen, um diese einmalige und wichtigste Quelle über unsere Vorfahren, die ihr gebührende Stellung einzuräumen - zum Wohle der Wahrheit, zum Wohle der Zukunft und zum Wohle Germaniens!

 
Andreas J. Voigt

Berlin, Herbst 2001

 

GERMANIA


"Die Hauptsache ist, daß die Rasse rein bleibe!
Rein und sich selber gleich, wie schon Tacitus sie einst rühmte.
So werden wir fähig, das Grundelement des Urvolkes der
Germanen zu erhalten und zu steigern."

Johann Wolfgang von Goethe


 
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1. Landesgrenzen Germaniens

Germanien insgesamt ist von den Galliern, von den Rätern und Pannoniern durch Rhein und Donau, von den Sarmaten und Dakern durch wechselseitiges Mißtrauen oder Gebirgszüge geschieden. Die weiteren Grenzen schließt das Weltmeer ein, breite Landvorsprünge und Inseln von unermeßlicher Ausdehnung umfassend: erst unlängst wurden einige Völkerschaften und Könige bekannt, zu denen der Krieg den Zugang eröffnet hat.

Der Rhein, auf unzugänglicher und schroffer Berghöhe der Rätischen Alpen entspringend, wendet sich in mäßiger Biegung nach Westen und mündet sodann in das Nordmeer. Die Donau, einem sanften und gemächlich ansteigenden Rücken des Abnobagebirges entströmend, berührt eine Reihe von Völkern, ehe sie mit sechs Armen ins Schwarze Meer eindringt; eine siebte Mündung verliert sich in Sümpfen.

2. Ursprung und Herkunft der Germanen

Die Germanen selbst möchte ich für Urbewohner halten, deren Rassenreinheit weder durch gewaltsame Zuwanderung noch durch gastliche Aufnahme fremder Völker beeinträchtigt worden ist. Denn ehemals kam man nicht auf dem Landwege, sondern zu Schiff gefahren, wer neue Wohnsitze suchte, und das Weltmeer, das ins Unermeßliche hinausreicht und sozusagen auf der anderen Seite liegt, wird nur selten von Schiffen aus unserer Zone besucht.

Wer hätte auch - abgesehen von den Gefahren des schrecklichen und unbekannten Meeres - Asien oder Afrika oder Italien verlassen und Germanien aufsuchen wollen, landschaftlich ohne Reiz, rauh im Klima, trostlos anzuschauen für jeden, dem es nicht gerade die Heimat ist!

In alten Liedern, der einzigen Art ihrer geschichtlichen Überlieferung, feiern die Germanen Tuisto, einen erdentsprossenen Gott. Ihm schreiben sie einen Sohn Mannus als Urvater und Gründer ihres Volkes zu, dem Mannus wiederum drei Söhne; nach deren Namen, heißt es, nennen sich die Stämme an der Meeresküste Ingävonen, die in der Mitte Herminonen und die übrigen Istävonen. Einige versichern - die Urzeit gibt ja für Vermutungen weiten Spielraum -, jener Gott habe mehr Söhne gehabt und es gebe demnach mehr Volksnamen: Marser, Gambrivier, Sueben, Wandilier, und das seien die echten, alten Namen.

Die Bezeichnung Germanien sei übrigens neu und erst vor einiger Zeit aufgekommen. Denn die ersten, die den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben hätten, die jetzigen Tungrer, seien damals Germanen genannt worden. So habe der Name eines Stammes, nicht eines ganzen Volkes, allmählich weite Geltung erlangt: zuerst wurden alle nach dem Sieger, aus Furcht vor ihm, als Germanen bezeichnet, bald aber nannten auch sie selbst sich so, nachdem der Name einmal aufgekommen war.

3. Herkules und Odysseus bei den Germanen

Auch Herkules, berichtet man, sei bei ihnen gewesen, und sie singen von ihm als dem ersten aller Helden, wenn sie in den Kampf ziehen. Außerdem haben sie noch eine Art von Liedern, durch deren Vortrag, Barditus geheißen, sie sich Mut machen und aus deren bloßem Klang sie auf den Ausgang der bevorstehenden Schlacht schließen; sie verbreiten nämlich Schrecken oder sind selbst in Furcht, je nachdem es durch ihre Reihen tönt, und sie halten den Gesang weniger für Stimmenschall als für den Zusammenklang ihrer Kampfeskraft. Es kommt ihnen vor allem auf die Rauheit des Tones und ein dumpfes Dröhnen an: sie halten die Schilde vor den Mund; so prallt die Stimme zurück und schwillt zu größerer Wucht und Fülle an.

Übrigens meinen einige, auch Odysseus sei auf seiner langen und sagenhaften Irrfahrt in das nördliche Weltmeer verschlagen worden und habe die Länder Germaniens besucht. Asciburgium, ein noch heute bewohnter Ort am Ufer des Rheins, sei von ihm gegründet und benannt worden; ebendort will man sogar vor Zeiten einen dem Odysseus geweihten Altar gefunden haben, auf dem auch der Name seines Vaters Laertes stand, und noch heute gebe es im Grenzgebiet zwischen Germanien und Rätien Grabdenkmäler mit griechischen Schriftzeichen.

Ich habe nicht die Absicht, diese Angaben durch Gründe zu bestätigen oder zu widerlegen; jeder mag ihnen nach seinem Gutdünken Glauben schenken oder nicht.

4. Rassenmerkmale der Germanen

Persönlich trete ich der Ansicht bei, die glauben, daß die Germanen ihr Blut nicht durch Heiraten mit Fremden befleckt haben, sondern eine eigenartige und rassenreine Volkseinheit geblieben sind, die sich von jedem anderen Volk unterscheidet. So haben sie denn auch trotz ihrer großen Volkszahl alle das gleiche Aussehen: die blauen Augen mit dem trotzigen Blick, das rötlichblonde Haar und die hochgewachsenen Körper, die allerdings nur im Angriff besonders stark sind.

 

Bei mühseliger Arbeit legen sie viel weniger Ausdauer an den Tag; Durst und Hitze vertragen sie schon gar nicht. Dagegen sind sie bei dem rauhen Klima und der Kärglichkeit des Bodens an Kälte und Hunger gewöhnt.

5. Bodenbeschaffenheit und Landesprodukte. Münzen

Das Land zeigt zwar im einzelnen einige Unterschiede; doch im ganzen macht es mit seinen Wäldern einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck. Gegen Gallien hin ist es reicher an Regen, nach Noricum und Pannonien zu windiger.

Getreide gedeiht, Obst hingegen nicht; Vieh gibt es reichlich, doch zumeist ist es unansehnlich. Selbst den Rindern fehlen die gewöhnliche Stattlichkeit und der Schmuck der Stirne; die Menge macht den Leuten Freude, und die Herden sind ihr einziger und liebster Besitz.

Silber und Gold haben ihnen die Götter - ich weiß nicht, ob aus Huld oder Zorn - versagt. Doch will ich nicht behaupten, daß keine Ader Germaniens Silber oder Gold enthalte; denn wer hat je danach gesucht? Besitz und Verwendung dieser Metalle reizt sie nicht sonderlich. Man kann beobachten, daß bei ihnen Gefäße aus Silber, Geschenke, die ihre Gesandten und Fürsten erhalten haben, ebenso gering geachtet werden wie Tonkrüge. Allerdings wissen unsere nächsten Nachbarn wegen des Handelsverkehrs mit uns Gold und Silber zu schätzen, und sie kennen bestimmte Sorten unseres Geldes und nehmen sie gern; doch im Innern herrscht noch einfacher und altertümlicher der Tauschhandel.

Von unseren Münzen gelten bei ihnen die alten und seit langem bekannten, die gezahnten und die mit dem Bilde eines Zweigespanns. Silber schätzen sie mehr als Gold, nicht aus besonderer Vorliebe, sondern weil sich der Wert des Silbergeldes besser zum Einkauf alltäglicher, billiger Dinge eignet.

6. Bewaffnung und Heerwesen

Auch an Eisen ist kein Überfluß, wie die Art der Bewaffnung zeigt. Nur wenige haben ein Schwert oder eine größere Lanze. Sie tragen Speere oder, wie sie selbst sagen, Framen, mit schmaler und kurzer Eisenspitze, die jedoch so scharf und handlich ist, daß sie dieselbe Waffe je nach Bedarf für den Nah- oder Fernkampf verwenden können. Selbst der Reiter begnügt sich mit Schild und Frame; die Fußsoldaten werfen auch kleine Spieße, jeder mehrere, und sie schleudern sie ungeheuer weit: sie sind halb nackt oder tragen nur einen leichten Umhang. Prunken mit Waffenschmuck ist ihnen fremd; nur die Schilde bemalen sie mit auffallenden Farben. Wenige haben einen Panzer, kaum der eine oder andere einen Helm oder eine Lederkappe.

 

Ihre Pferde zeichnet weder Schönheit noch Schnelligkeit aus. Sie werden auch nicht, wie bei uns, zu kunstvollen Wendungen abgerichtet; man reitet geradeaus oder mit einmaliger Schwenkung nach rechts, und zwar in so geschlossener Linie, daß niemand zurückbleibt. Im ganzen gesehen liegt ihre Stärke mehr beim Fußvolk; daher kämpfen sie auch in gemischten Verbänden. Hierbei paßt sich die Behendigkeit der Fußsoldaten genau dem Reiterkampfe an: man stellt nur Leute vor die Schlachtreihe, die aus der gesamten Jungmannschaft ausgewählt sind. Auch ist ihre Zahl begrenzt: aus jedem Gau sind es hundert, und eben hiernach werden sie bei den Ihren genannt, und was ursprünglich nur eine Zahlbezeichnung war, gilt nunmehr auch als Ehrentitel.

Zum Kampfe stellt man sich in Keilen auf. Vom Platz zu weichen, wenn man nur wieder vordringt, hält man eher für wohlbedacht, nicht für feige. Ihre Toten bergen sie auch in unglücklicher Schlacht. Den Schild zu verlieren, ist eine Schmach ohnegleichen, und der so Entehrte darf weder an Opfern teilnehmen noch eine Versammlung besuchen, und schon mancher, der heil aus dem Kriege zurückkehrte, hat seiner Schande mit dem Strick ein Ende gemacht.

7. Führerschaft und Kampfesweise

Könige wählen sie nach Maßgabe des Adels, Heerführer nach der Tapferkeit. Selbst die Könige haben keine unbeschränkte oder freie Herrschergewalt, und die Heerführer erreichen mehr durch ihr Beispiel als durch Befehle: sie werden bewundert, wenn sie stets zur Stelle sind, wenn sie sich auszeichnen, wenn sie in vorderster Linie kämpfen.

Übrigens ist es nur den Priestern erlaubt, jemanden hinzurichten, zu fesseln oder auch nur zu schlagen, und sie handeln nicht, um zu strafen oder auf Befehl des Heerführers, sondern gewissermaßen auf Geheiß der Gottheit, die, nach ihrem Glauben, den Kämpfenden zur Seite steht.

Deshalb nehmen die Germanen auch gewisse Bilder und Zeichen, die sie aus den heiligen Hainen holen, mit in die Schlacht. Besonders spornt sie zur Tapferkeit an, daß nicht Zufall und willkürliche Zusammenrottung, sondern Sippen und Geschlechter die Reiterhaufen oder die Schlachtkeile bilden. Und ganz in der Nähe haben sie ihre Lieben; von dorther können sie das Schreien der Frauen, von dorther das Wimmern der Kinder vernehmen. Ihr Zeugnis ist jedem das heiligste, ihr Lob das höchste: zur Mutter, zur Gattin kommen sie mit ihren Wunden, und jene zählen oder prüfen ohne Scheu die Stiche; auch bringen sie den Kämpfenden Speise und Zuspruch.

8. Von dem hohen Ansehen der Frau

Schon manche wankende und sich auflösende Schlachtreihe wurde, wie es heißt, von den Frauen wieder zum Stehen gebracht: durch beharrliches Flehen, durch Entgegenhalten der entblößten Brust und den Hinweis auf die nahe Gefangenschaft, die den Germanen um ihrer Frauen Willen weit unerträglicher und schrecklicher dünkt. Aus diesem Grunde kann man einen Stamm noch wirksamer binden, wenn man unter den Geiseln auch vornehme Mädchen von ihm fordert.

 

Die Germanen glauben sogar, den Frauen wohne etwas Heiliges und Seherisches inne; deshalb achten sie auf ihren Rat und hören auf ihren Bescheid. Wir haben es ja zur Zeit des verewigten Vespasian erlebt, wie Veleda lange Zeit bei vielen als göttliches Wesen galt. Doch schon vor Zeiten haben sie Albruna und mehrere andere Frauen verehrt, aber nicht aus Schmeichelei oder als ob Göttinnen aus ihnen gemacht würden.

9. Götterwelt

Von den Göttern verehren sie am meisten den Merkur (Wodan); sie halten es für geboten, ihm an bestimmten Tagen auch Menschenopfer darzubringen. Herkules (Donar) und Mars (Zio) stimmen sie durch bestimmte Tieropfer gnädig.

Ein Teil der Sueben opfert auch der Isis. Worin der fremde Kult seinen Grund und Ursprung hat, ist mir nicht recht bekannt geworden; immerhin beweist das Zeichen der Göttin - es sieht wie eine Barke aus -, daß der Kult auf dem Seewege gekommen ist. Im übrigen glauben die Germanen, daß es der Hoheit der Himmlischen nicht gemäß sei, Götter in Wände einzuschließen oder irgendwie der menschlichen Gestalt nachzubilden. Sie weihen ihnen Wälder, Lichtungen und Haine, und mit göttlichem Namen benennen sie jenes geheimnisvolle Wesen, das sie nur in Ehrfurcht erblicken.

10. Erkundung des göttlichen Willens

Auf Vorzeichen und Losorakel achtet niemand so viel wie sie. Das Verfahren beim Losen ist einfach: Sie schneiden von einem fruchttragenden Baum einen Zweig ab und zerteilen ihn in kleine Stücke; diese machen sie durch Zeichen kenntlich und streuen sie planlos und wie es der Zufall will auf ein weißes Laken. Dann betet bei einer öffentlichen Befragung der Stammespriester, bei einer privaten der Hausvater zu den Göttern, hebt, gegen den Himmel blickend, nacheinander drei Zweigstücke auf und deutet sie nach den vorher eingeritzten Zeichen. Lautet das Ergebnis ungünstig, so findet am gleichen Tage keine Befragung mehr über denselben Gegenstand statt; lautet es jedoch günstig, so muß es noch durch Vorzeichen bestätigt werden.

Und der verbreitete Brauch, Stimme und Flug von Vögeln zu befragen, ist auch hier bekannt; hingegen ist es eine germanische Eigenheit, auch auf Vorzeichen und Hinweise von Pferden zu achten. Auf Kosten der Allgemeinheit hält man in den erwähnten Hainen und Lichtungen Schimmel, die durch keinerlei Dienst für Sterbliche entweiht sind. Man spannt sie vor den heiligen Wagen; der Priester und der König oder das Oberhaupt des Stammes gehen neben ihnen und beobachten ihr Wiehern und Schnauben. Und keinem Zeichen schenkt man mehr Glauben, nicht etwa nur beim Volke: auch bei den Vornehmen, bei den Priestern; sich selbst halten sie nämlich nur für Diener der Götter, die Pferde hingegen für deren Vertraute.

 

Die Germanen beachten noch eine andere Art von Vorzeichen; hiermit suchen sie den Ausgang schwerer Kriege zu erkunden. Sie bringen auf irgendeine Weise einen Angehörigen des Stammes, mit dem sie Krieg führen, in ihre Gewalt und lassen ihn mit einem ausgewählten Manne des eigenen Volkes, jeden in den Waffen seiner Heimat, kämpfen. Der Sieg des einen oder anderen gilt als Vorentscheidung.

11. Thing

Über geringere Angelegenheiten entscheiden die Stammeshäupter, über wichtigere die Gesamtheit; doch werden auch die Dinge, für die das Volk zuständig ist, zuvor von den Stammeshäuptern beraten. Man versammelt sich, wenn nicht ein zufälliges und plötzliches Ereignis eintritt, an bestimmten Tagen, bei Neumond oder Vollmond; dies sei, glauben sie, für Unternehmungen der gedeihlichste Anfang. Sie rechnen nicht nach Tagen, wie wir, sondern nach Nächten. So setzen sie Fristen fest, so bestimmen sie die Zeit: die Nacht geht nach ihrer Auffassung dem Tage voran. Ihre Ungebundenheit hat eine üble Folge: sie finden sich nie gleichzeitig und nicht wie auf Befehl zur Versammlung ein; vielmehr gehen über dem Säumen der Eintreffenden zwei oder drei Tage verloren.

Sobald es der Menge beliebt, nimmt man Platz, und zwar in Waffen. Ruhe gebieten die Priester; sie haben jetzt auch das Recht zu strafen. Dann hört man den König an oder die Stammeshäupter, jeweils nach dem Alter, nach dem Adel, nach dem Kriegsruhm, nach der Redegabe; hierbei kommt es mehr auf Überzeugungskraft an als auf Befehlsgewalt. Mißfällt ein Vorschlag, so weist man ihn durch Murren ab; findet er jedoch Beifall, so schlägt man die Framen aneinander. Das Lob mit den Waffen ist die ehrenvollste Art der Zustimmung.

12. Thing und Rechtspflege

Vor der Volksversammlung (Thing) darf man auch Anklage erheben und die Entscheidung über Leben und Tod beantragen. Die Strafen richten sich nach der Art des Vergehens: Verräter und Überläufer hängt man an Bäumen auf; Feiglinge, Fahnenflüchtlinge und solche, die ihren Leib durch widernatürliche Unzucht geschändet haben, versenkt man in Sumpf und Morast, wobei man noch Flechtwerk darüber wirft. Die Verschiedenheit der Vollstreckung beruht auf dem Grundsatz, man müsse Verbrechen zur Schau stellen, wenn man sie ahnde, Schandtaten hingegen dem Blicke entziehen will. Doch auch in leichteren Fällen entspricht die Strafe dem Vergehen: wer überführt wird, muß mit einer Anzahl von Pferden und Rindern büßen. Ein Teil der Buße kommt dem König oder dem Stamme zu, ein Teil dem Geschädigten selbst oder seinen Verwandten.

In diesem Landesthing werden auch Adlige (Gaufürsten) gewählt, die in den Gauen und Dörfern Recht sprechen; einem jeden steht ein Geleit von Gemeinfreien des Gaues als beratende und beschließende Körperschaft zur Seite.

13. Wehrhaftmachung und Gefolgswesen

Niemals, weder bei Sachen der Gemeinde noch bei eigenen, erledigen sie etwas anders als im Waffenschmuck. Doch darf keiner Waffen tragen, ehe ihn der Gemeinde für wehrfähig anerkannt hat. Das geschieht im Thing: eines der Stammeshäupter oder der Vater oder Verwandte wappnen den jungen Mann mit Schild und Frame. Dies ist das Männerkleid der Germanen, der erste Ehrenschmuck der Jugend. Vorher zählen sie nur zur Familie, von jetzt an zum Gemeinwesen.

Hoher Adel oder große Verdienste der Väter verschaffen auch ganz jungen Leuten die Rangstellung eines Gefolgsherrn; Sie werden in den Kreis der anderen älteren und schon kampferprobten Gefolgsherren aufgenommen. Es ist aber auch keine Schande, unter den Gefolgsleuten zu erscheinen. Ja, innerhalb der Gefolgschaft gibt es sogar Rangstufen, nach der Bestimmung dessen, dem man sich anschließt. Und es herrscht lebhafter Wetteifer: der Gefolgsleute, wer die erste Stelle beim Gefolgsherrn einnimmt, und der Gefolgsherrn, wer das größte und tüchtigste Gefolge hat.

 

So kommt man zu Ansehen, so zu Macht; stets von einer großen Schar auserlesener, heldenhafter junger Männer umgeben zu sein, ist im Frieden eine Zier, im Kriege ein Schutz. Und nicht nur im eigenen Stamme, auch bei den Nachbarn ist bekannt und berühmt, wer sich durch ein zahlreiches und tapferes Gefolge hervortut. Denn solche Gefolgsherren umwirbt man durch Gesandte und ehrt man durch Geschenke, und schon sein Ruf verhindert oft einen drohenden Krieg.

14. Die Gefolgschaft im Kriege

Kommt es zur Schlacht, ist es schimpflich für den Gefolgsherrn, an Tapferkeit zurückzustehen, schimpflich für das Gefolge, es dem Herrn an Tapferkeit nicht gleichzutun. Doch für das ganze Leben lädt Schmach und Schande auf sich, wer seinen Herrn überlebend aus der Schlacht zurückkehrt: ihn zu schirmen und zu schützen, auch die eigenen Heldentaten ihm zum Ruhme anzurechnen, ist des Dienstes heiligste Pflicht: darin gipfelt der Treueid der Mannen. Die Herren kämpfen für den Sieg, die Gefolgsleute für den Herrn.

Wenn der Heimatstamm in langer Friedensruhe erstarrt, suchen viele der jungen Edlinge auf eigene Faust Völkerschaften auf, die gerade irgendeinen Krieg führen; denn Tatenlosigkeit behagt diesem Volke nicht, und inmitten von Gefahren wird man leichter berühmt. Auch läßt sich ein großes Gefolge nur durch Gewalttat und Krieg unterhalten. Die Gefolgsleute erwarten nämlich von der Huld ihres Herrn ihr Streitroß, ihre blutige und siegbringende Frame. Denn die Mahlzeiten und die, wenn auch einfachen, so doch reichlichen Schmausereien gelten als Soldzahlung. Die Mittel zu diesem Aufwand bieten Kriege und Raubzüge. Und nicht so leicht könnte man einen Germanen dazu bringen, das Feld zu bestellen und die Ernte abzuwarten, als den Feind herauszufordern und sich Wunden zu holen; es gilt sogar für träge und faul, sich mit Schweiß zu erarbeiten, was man mit Blut erringen kann.

15. Die Gefolgschaft im Frieden

Wenn sie nicht zu Felde ziehen, verbringen sie viel Zeit mit Jagen, mehr noch mit Nichtstun, dem Schlafen und Essen ergeben. Gerade die Tapfersten und Kriegslustigsten rühren sich nicht. Die Sorge für Haus, Hof und Feld bleibt den Frauen, den alten Leuten und allen Schwachen im Hauswesen überlassen; sie selber faulenzen. Ein seltsamer Widerspruch ihres Wesens: dieselben Menschen lieben so sehr das Nichtstun und hassen zugleich die Ruhe.

Es ist bei den Stämmen Brauch (Landessitte), daß jedermann freiwillig den Fürsten (bzw. Gefolgsherren) etwas von seinem Vieh oder Korn überläßt; das wird als Ehrengabe angenommen und dient zugleich der Bestreitung des Notwendigen. Besondere Freude bereiten die Geschenke der Nachbarstämme, die nicht nur von einzelnen, sondern auch im Namen der Gesamtheit geschickt werden: erlesene Pferde, prächtige Waffen, Brustschmuck und Halsketten; wir haben sie schon dazu gebracht, auch Geld anzunehmen.

16. Siedlungsweise und Wohnstätten

Daß die Völkerschaften der Germanen keine Städte bewohnen, ist hinreichend bekannt, ja daß sie nicht einmal zusammenhängende Siedlungen dulden. Sie hausen einzeln und gesondert, gerade wie ein Quell, eine Fläche, ein Gehölz ihnen zusagt. Ihre Dörfer legen sie nicht in unserer Weise an, daß die Gebäude verbunden sind und aneinanderstoßen: jeder umgibt sein Haus mit freiem Raum, sei es zum Schutz gegen Feuersgefahr, sei es aus Unkenntnis im Hauen. Nicht einmal Bruchsteine oder Ziegel sind bei ihnen im Gebrauch; zu allem verwenden sie unbehauenes Holz, ohne auf ein gefälliges oder freundliches Aussehen zu achten. Einige Flächen bestreichen sie recht sorgfältig mit einer so blendend weißen Erde, daß es wie Bemalung und farbiges Linienwerk aussieht.

Sie schachten auch oft im Erdboden Gruben aus und bedecken sie mit reichlich Dung, als Zuflucht für den Winter und als Fruchtspeicher. Derartige Räume schwächen nämlich die Wirkung der strengen Kälte, und wenn einmal der Feind kommt, dann verwüstet er nur, was offen daliegt; doch das Verborgene und Vergrabene bemerkt er nicht, oder es entgeht ihm deshalb, weil er erst danach suchen müßte.

17. Kleidung

Allgemeine Tracht ist ein Umhang, mit einer Spange oder notfalls einem Dorn zusammengehalten. Im übrigen sind sie unbekleidet; ganze Tage verbringen sie so am Herdfeuer. Die Wohlhabenden haben noch Untergewänder, nicht wallende, wie die Sarmaten und Parther, sondern eng anliegende, die jedes Glied erkennen lassen. Man trägt auch Tierfelle, an Rhein und Donau wahllos, im Landesinneren anspruchsvoller; dort fehlt es an sonstigem Putz, wie ihn der Handel vermittelt. Diese Stämme bevorzugen die Felle bestimmter Wildarten; sie ziehen sie ab und besetzen sie mit Pelzstücken von Tieren, die dem Gebiet der Nordsee und ein noch unbekanntes Meer (Nordmeer) entstammen.

Die Frauen sind nicht anders gekleidet als die Männer; nur hüllen sie sich öfters in Umhänge aus Leinen, die sie mit bunt verzieren. Auch lassen sie den oberen Teil ihres Gewandes nicht in Ärmel auslaufen; Unter- und Oberarm sind nackt, doch auch der obere Teil der Brust bleibt frei.

18. Hochzeitsfeierlichkeiten

Gleichwohl halten die Germanen auf strenge Ehezucht, und in keinem Punkte verdienen ihre Sitten größeres Lob. Denn sie sind fast die einzigen unter den Fremdvölkern, die sich mit nur einer Gattin begnügen; sehr wenige machen hiervon eine Ausnahme, nicht aus Sinnlichkeit, sondern weil sie wegen ihres Adels mehrfach um Eheverbindungen angegangen werden.

Die Mitgift bringt nicht die Gattin dem Manne, sondern der Mann der Gattin. Eltern und Verwandte sind zugegen und prüfen die Gaben, und zwar Gaben, die nicht für die weibliche Eitelkeit und nicht zum Schmuck der Neuvermählten bestimmt sind, sondern Rinder und ein gezäumtes Roß und einen Schild mit Frame und Schwert. Für diese Gaben erhält der Mann die Gattin, die nun auch ihrerseits dem Manne eine Waffe schenkt. Das gilt ihnen als die stärkste Bindung, als geheime Weihe, als göttlicher Schutz der Ehe.

Die Frau soll nicht meinen, sie stehe außerhalb des Trachtens nach Heldentaten und außerhalb des wechselnden Schlachtenglücks: gerade die Wahrzeichen der beginnenden Ehe erinnern sie daran, daß sie als die Gefährtin in Not und Gefahren kommt, bereit, Gleiches im Frieden, Gleiches im Kampf zu ertragen und zu wagen. Dies bedeuten das Ochsengespann unter gemeinsamem Joch, dies das gerüstete, aufgezäumte Pferd, dies die Waffengabe. Demgemäß solle sie leben, demgemäß sterben; ihr werde etwas anvertraut, was sie unentweiht und in Ehren an ihre Kinder weiterzugeben habe, was die Schwiegertöchter zu empfangen und wiederum den Enkeln zu vermachen hätten.

19. Heiligkeit der Ehe

So leben die Frauen in wohlbehüteter Sittsamkeit, nicht durch lüsterne Schauspiele, nicht durch aufreizende Gelage verführt. Heimliche Briefe sind den Männern ebenso unbekannt wie den Frauen. Überaus selten ist trotz der so zahlreichen Bevölkerung ein Ehebruch. Die Strafe folgt auf der Stelle und ist dem Manne überlassen: er schneidet der Ehebrecherin das Haar ab, jagt sie nackt vor den Augen der Verwandten aus dem Hause und treibt sie mit Rutenstreichen durch das ganze Dorf. Denn für Preisgabe der Keuschheit gibt es keine Nachsicht: nicht Schönheit, nicht Jugend, nicht Reichtum verschaffen einer solchen Frau wieder einen Mann. Denn in Germanien lacht nämlich niemand über Ausschweifungen, und verführen und sich verführen lassen nennt man nicht "modern" ("dem Zeitgeist huldigen").

 

Besser noch steht es mit den Stämmen, in denen nur Jungfrauen heiraten und das Hoffen und Wünschen der Frau ein für allemal ein Ende hat. Nur den einen Gatten bekommen sie dort, ebenso wie nur einen Leib und ein Leben; kein Gedanke soll weiter reichen, kein Verlangen darüber hinaus anhalten; nicht den Ehemann, sondern gleichsam den Ehestand (die Mutterschaft) selbst sollen sie lieben. Die Zahl der Kinder zu beschränken oder ein Nachgeborenes zu töten, gilt schändliche Frevel, und mehr gelten in Germanien gute Sitten als anderswo gute Gesetze.

20. Kinder und Erbrecht

In jedem Hause wachsen die Kinder nackt und schmutzig auf; dabei erreichen sie die prächtigen Glieder und die stattlichen Körper, die wir an ihnen so bewundern. Die Mutter nährt ein jedes an der eigenen Brust, und man überläßt sie nicht Mägden oder Ammen. Herrensohn und Knechtsohn werden unterschiedslos ohne Zärtelei aufgezogen; unter demselben Vieh, auf demselben Erdboden tummeln sie sich, bis das wehrhafte Alter die Freien absondert, ihre Tüchtigkeit sich geltend macht.

Spät beginnt beim jungen Manne der Liebesgenuß, und so ist die Zeugungskraft ungeschwächt. Auch mit der Verheiratung eilt man nicht; ebenso groß ist die Jugendfrische, ähnlich der hohe Wuchs: wenn den Männern gleich an Alter und Stärke, treten sie in die Ehe ein, und die Kraft der Eltern kehrt in den Kindern wieder.

Die Söhne der Schwestern sind ihrem Bruder ebenso teuer wie ihrem Vater. Manche Stämme halten diese Blutsbande für heiliger noch und enger als die von Vater und Sohn und geben ihnen den Vorzug, wenn sie Geiseln empfangen, da man sich so die Herzen fester und die Sippe in weiterem Umfang verpflichte.

Doch zu Erben und Rechtsnachfolgern hat jeder die eigenen Kinder, und Testamente gibt es nicht. Sind keine Kinder vorhanden, so haben die Brüder und die Oheime (Onkel) väterlicher- wie mütterlicherseits die nächsten Ansprüche auf den Besitz. Je mehr Verwandte jemand hat, je größer die Zahl der Verschwägerten ist, desto reichere Ehren genießt er im Alter, und Kinderlosigkeit bringt keinerlei Vorteil.

21. Fehde und Gastfreundschaft

Die Feindschaften des Vaters oder Verwandten ebenso wie die Freundschaften zu übernehmen, ist zwingende Pflicht. Doch bestehen die Fehden nicht unversöhnlich fort; denn selbst ein Totschlag kann mit einer bestimmten Anzahl Groß- und Kleinvieh gesühnt werden, und die ganze Sippe empfängt die Genugtuung. Das ist nützlich für die Allgemeinheit, weil Fehden bei der Ungebundenheit der Verhältnisse um so verderblicher sind.

Der Geselligkeit und Gastfreundschaft gibt kein anderes Volk sich verschwenderischer hin. Irgend jemanden, wer es auch sei, vom Hause zu weisen, gilt als Frevel; nach Vermögen bewirtet ein jeder den Gast an reichlicher Tafel. Ist das Mahl aufgezehrt, so dient der bisherige Wirt als Wegweiser zu neuer Bewirtung und als Begleiter; ungeladen betreten sie den nächsten Hof. Doch das verschlägt nichts; mit gleicher Herzlichkeit nimmt man sie auf. Beim Gastrecht unterscheidet niemand zwischen bekannt und unbekannt. Dem Davonziehenden pflegt man zu gewähren, was er sich ausbittet, und mit gleicher Unbefangenheit fordert man eine Gegengabe. Sie freuen sich über Geschenke, doch rechnen sie nicht an, was sie geben, und halten sie nicht für verpflichtend, was sie empfangen. Die tägliche Kost ist unter Gastfreunden Gemeingut.

22. Vom Leben im Hause

Gleich nach dem Schlafe, den sie häufig bis in den lichten Tag hinein ausdehnen, waschen sie sich, öfters warm, da bei ihnen die meiste Zeit Winter ist. Nach dem Waschen speisen sie; jeder hat einen Sitz für sich und einen eigenen Tisch. Dann gehen sie in Waffen an ihre Geschäfte und nicht minder oft zu Gelagen. Tag und Nacht durchzuzechen, ist für niemanden eine Schande. Streitigkeiten sind häufig (es handelt sich ja um Betrunkene); sie enden selten mit bloßen Schimpfreden, öfters mit Totschlag und Blutvergießen.

Doch auch über die Aussöhnung mit Feinden, den Abschluß von Heiraten und die Wahl der Stammeshäupter (Edlinge), ja über Krieg und Frieden beraten sie sich vielfach bei Gelagen, als sei der Mensch zu keiner Zeit aufgeschlossener für unverstellte oder stärker entbrannt für erhabene Gedanken. Dieses Volk, ohne Falsch und Trug, offenbart noch stets bei zwanglosem Anlaß die Geheimnisse des Herzens; so liegt denn aller Gesinnung unverhüllt und offen da. Am folgenden Tage verhandeln sie nochmals, und beide Zeiten erfüllen ihren Zweck; sie beraten, wenn sie sich nicht zu verstellen wissen; sie beschließen, wenn sie - wieder nüchtern - sich nicht irren können.

23. Speis und Trank

Als Getränk dient ein Gebräu aus Gerste oder Weizen, der durch Gärung eine gewisse Ähnlichkeit mit Wein erhält; die Anwohner von Rhein und Donau kaufen auch echte Weine.

Die Kost ist einfach: wildwachsendes Obst, frisches Wildbret oder geronnene Milch (Quarkkäse). Ohne umständliche Zubereitung, ohne besondere Gewürze vertreiben sie den Hunger. Dem Durst gegenüber herrscht nicht dieselbe Mäßigung. Wollte man ihnen, ihrer Trunksucht nachgehend, verschaffen, soviel sie wollen, so könnte man sie leichter durch ihr Laster als mit Waffen besiegen.

24. Waffentanz und Würfelspiel

Germanen kennen nur eine Art von Darbietungen, und bei jeder Festlichkeit dieselbe: nackt stürzen sich junge Männer, denen das Vergnügen macht, im Sprunge zwischen Schwerter und feindlich drohende Framen; sie betreiben das als Sport. Die Übung hat Sicherheit, die Sicherheit Anmut bewirkt und die Geschicklichkeit wird immer größer, doch nicht um Gewinn oder Entgelt: der einzige Lohn des noch so verwegenen Spiels ist das Vergnügen der Zuschauer.

 

Das Würfelspiel betreiben sie seltsamerweise in voller Nüchternheit, ganz wie ein ernsthaftes Geschäft; ihre Leidenschaft im Gewinnen und Verlieren ist so hemmungslos, daß sie, wenn sie alles verspielt haben, mit dem äußersten und letzten Wurf um die Freiheit und ihren eigenen Leib kämpfen. Der Verlierer begibt sich willig in die Knechtschaft: mag er auch jünger, mag er kräftiger sein, er läßt sich binden und verkaufen. So groß ist ihr Starrsinn an verkehrter Stelle; sie selbst reden von Treue. Sklaven, die sie auf diese Art gewonnen haben, veräußern sie weiter, um sich und den anderen die Beschämung zu ersparen.

25. Die Stellung der Sklaven und Freigelassenen

Sonst verwenden sie die Sklaven nicht wie wir, daß die Aufgaben auf das Gesinde verteilt wären: jeder schaltet auf eigenem Hofe, am eigenen Herd. Der Herr trägt ihm wie einem Pächter auf, eine bestimmte Menge Korn oder Vieh oder Tuch abzugeben, und nur so weit reicht die Gehorsamspflicht des Sklaven. Die übrigen Geschäfte des Hauses besorgen die Frau und die Kinder. Daß man einen Sklaven prügelt, fesselt und mit Zwangsarbeit bestraft, ist selten; oft schlägt man ihn tot, nicht um strenge Zucht zu wahren, sondern in der Hitze des Zorns, wie einen Widersacher - allerdings ist die Sklaventötung straffrei.

Die Freigelassenen stehen nur wenig über den Sklaven; selten bedeuten sie etwas im Hause, nie im Gemeinwesen, mit Ausnahme der Stämme, denen Könige gebieten. Denn dort steigen sie über Freigeborene und selbst über Adlige hinaus; bei den übrigen Stämmen ist der niedere Rang der Freigelassenen ein Beweis für die allgemeine Freiheit.

26. Landwirtschaft

Geldgeschäfte zu betreiben und auch mit den Zinsen zu wuchern, ist den Germanen unbekannt, und deshalb ist man besser dagegen gefeit, als wenn es verboten wäre.

Ackerland nehmen sie in einem Ausmaß, das der Anzahl der Bebauer entspricht, mit gesamter Hand füreinander in Besitz; dann teilen sie es nach ihrem Range unter sich auf.

 

Die Weiträumigkeit der Feldmark erleichtert das Teilungsgeschäft. Sie bestellen Jahr für Jahr andere Felder, und doch bleibt Ackerland übrig. Denn ihr Arbeitsaufwand wetteifert nicht mit der Fruchtbarkeit und Ausdehnung des Bodens: sie legen keine Obstpflanzungen an noch umzäunen sie Wiesen oder bewässern sie Gärten; einzig Getreide soll der Boden hervorbringen. Deshalb teilen sie auch das Jahr nicht in ebenso viele Abschnitte ein. Für Winter, Frühling und Sommer haben sie Begriff und Bezeichnung; der Herbst ist ihnen unbekannt, der Name ebenso wie die Gaben.

27. Totenbestattung

Bei Totenfeiern meiden sie Prunk; nur darauf achten sie, daß die Leichen berühmter Männer mit bestimmten Holzarten verbrannt werden. Den Scheiterhaufen beladen sie nicht mit Teppichen oder Räucherwerk. Jeden begleiten die Waffen; einigen wird auch das Pferd ins Feuer mitgegeben. Über dem Grabe erhebt sich ein Rasenhügel; die Ehre hoher und kunstvoller Denkmäler lehnt man ab: sie sei eine Last für die Toten. Jammer und Tränen währen nur kurz, doch Schmerz und Trauer lange. Den Frauen ziemt Klage, den Männern stilles Gedenken.

 

Dies haben wir im allgemeinen über den Ursprung und die Sitten sämtlicher Germanen erfahren. Jetzt will ich die Einrichtungen und Bräuche einzelner Stämme, soweit sie anders sind, schildern und will berichten, welche Völkerschaften aus Germanien nach Gallien gewandert sind.

28. Germanen & Nichtgermanen links und rechts des Rheins

Daß die Gallier einst überlegen waren, bezeugt ein Gewährsmann ersten Ranges, der göttliche Julius Cäsar. Man darf daher annehmen, da8 auch Gallier nach Germanien hinübergezogen sind. Denn wie wenig hinderte der Strom, daß ein Stamm, der gerade erstarkt war, neue Wohnsitze einnahm, wenn sie noch allgemein zugänglich und nicht unter königliche Gewalthaber aufgeteilt waren! Zudem galt damals das Land als Allgemeinbesitz und war noch nicht durch mächtige Könige für die Dauer aufgeteilt.

So hausten zwischen dem herkynischen Walde, dem Rhein und dem Main die Helvetier und weiter ostwärts die Boier, beides gallische Stämme. Der Name Boihämum ist bis heute geblieben und gibt Kunde von der Vorzeit des Landes, wenngleich die Bewohner gewechselt haben.

Ob jedoch die Aravisker aus dem Gebiet der Oser, eines germanischen Stammes, nach Pannonien oder die Oser von den Araviskern aus nach Germanien gewandert sind - beide Völkerschaften haben noch heute dieselbe Sprache, dieselben Einrichtungen und Sitten -, steht nicht fest; denn ehedem bot das Land nördlich wie südlich der Donau bei gleicher Dürftigkeit des Bodens und Unabhängigkeit dieselben Vorzüge und Nachteile.

Die Treverer und Nervier rühmen sich allzusehr ihres Anspruchs auf germanische Herkunft, als schlösse schon ein solcher Adel des Blutes die Verwechslung mit gallischer Schlaffheit aus. Am Rheinufer selbst wohnen unzweifelhaft Germanenstämme: die Vangionen, Triboker und Nemeter. Auch die Ubier schämen sich ihres germanischen Ursprungs nicht, obwohl ihnen ihre Verdienste die Stellung einer römischen Kolonie eingebracht haben und sie sich lieber nach der Gründerin ihrer Stadt als Agrippinenser bezeichnen. Sie haben vor Zeiten den Rhein überschritten und wurden, da ihre Treue sich bewährte, unmittelbar am Ufer angesiedelt, als Wächter, nicht als Bewachte.

29. Rechtsrheinische Germanen und Rom. Das Zehntland

Von allen diesen Stämmen sind die Bataver am tapfersten. Sie bewohnen einen Streifen am linken Ufer und in der Hauptsache die Rheininsel. Ursprünglich ein Zweig der Chatten, zogen sie wegen inneren Zwistes in die jetzigen Wohnsitze, wo sie dem römischen Reiche einverleibt werden sollten. Die Ehre und Auszeichnung alter Bundesgenossenschaft hat bis heute Bestand; denn kein Zins demütigt sie, und kein Steuerpächter preßt sie aus. Frei von Lasten und Abgaben und einzig Kampfzwecken vorbehalten, werden sie wie Wehr und Waffen für Kriege aufgespart.

 

In gleicher Abhängigkeit steht der Stamm der Mattiaker. Denn die Größe des römischen Volkes hat sich auch jenseits des Rheines und jenseits der alten Reichsgrenzen Achtung verschafft. So haben sie Gebiet und Wohnsitz auf germanischer Seite, doch Herz und Gesinnung bei uns. Im übrigen gleichen sie den Batavern, nur daß Bodenbeschaffenheit und Klima ihres Landes sie mit noch größerer Lebhaftigkeit begabt haben.

Nicht zu den Völkerschaften Germaniens möchte ich die Leute rechnen, die das Zehntland bebauen, wenn sie sich auch jenseits von Rhein und Donau angesiedelt haben; gallisches Gesindel und aus Not Verwegene eigneten sich den umstrittenen Boden an. Bald darauf wurden der Grenzwall angelegt und die Wachen vorgeschoben; seither gilt das Gebiet als Vorland des Reiches und Teil der Provinz.

30. Die Chatten

Weiter nördlich beginnt mit dem herkynischen Walde das Land der Chatten; sie wohnen nicht in so flachen und sumpfigen Gebieten wie die übrigen Stämme, die das weite Germanien aufnimmt. Denn die Hügel dauern an und werden erst allmählich seltener, und so begleitet der herkynische Wald seine Chatten und endet mit ihnen.

Bei diesem Volk sind kräftiger die Gestalten, sehnig die Glieder, durchdringend der Blick und größer die geistige Regsamkeit. Für Germanen zeigen sie viel Umsicht und Geschick: sie stellen Männer ihrer Wahl an die Spitze, gehorchen den Vorgesetzten, kennen Reih und Glied, nehmen günstige Umstände wahr, verschieben einmal einen Angriff, teilen sich ein für den Tag, verschanzen sich für die Nacht; das Glück halten sie für unbeständig und nur die eigene Tapferkeit für beständig. Und was überaus selten und sonst allein römischer Kriegszucht möglich ist: sie geben mehr auf die Führung als auf das Heer. Ihre Stärke liegt ganz beim Fußvolk, dem sie nicht nur Waffen, sondern auch Schanzzeug und Verpflegung aufbürden: andere sieht man in die Schlacht ziehen, die Chatten in den Krieg.

Selten kommt es zu Streifzügen und Einzelgefechten. Es ist ja auch die Art berittener Streitkräfte, rasch den Sieg zu erringen und rasch wieder zu entweichen; doch Schnelligkeit grenzt an Furcht, behutsames Vorgehen kommt standhaftem Mute näher.

31. Eigenheiten der Chatten

Ein Brauch, der auch bei anderen germanischen Stämmen vorkommt, jedoch selten und als Beweis vereinzelten Wagemuts, ist bei den Chatten allgemein üblich geworden: mit dem Eintritt in das Mannesalter lassen sie Haupthaar und Bart wachsen, und erst, wenn sie einen Feind erschlagen haben, beseitigen sie diesen der Tapferkeit geweihten und verpfändeten Zustand ihres Gesichtes. Über dem Blut und der Waffenbeute enthüllen sie ihre Stirn und glauben, erst jetzt die Schuld ihres Daseins entrichtet zu haben und des Vaterlandes sowie ihrer Eltern würdig zu sein. Die Feigen und Kriegsscheuen behalten ihren Wust.

Die Tapfersten tragen überdies einen eisernen Ring - sonst eine Schande bei diesem Stamme - wie eine Fessel, bis sie sich durch Tötung eines Feindes davon befreien. Vielen Chatten gefällt dieses Aussehen, und sie werden grau mit ihren Kennzeichen, von Freund und Feind gleichermaßen beachtet. Sie eröffnen jeden Kampf; sie sind stets das vorderste Glied, ein befremdender Anblick; denn auch im Frieden nimmt ihr Gesicht kein milderes Aussehen an. Keiner von ihnen hat Haus oder Hof oder sonstige Pflichten; wen immer sie aufsuchen, von dem lassen sie sich je nach den Verhältnissen bewirten; sie sind Verschwender fremden und Verächter eigenen Gutes, bis das kraftlose Alter sie zu so rauhem Kriegerdasein unfähig macht.

32. Die Usiper und Tencterer

Den Chatten zunächst, wo der Rhein noch ein festes Bett hat und als Grenzscheide genügt, wohnen die Usiper und Tenkterer. Die Tenkterer überragen der üblichen germanischen Kriegstüchtigkeit durch ihre vorzüglich geschulte Reiterei, und ebenso großes Ansehen wie das Fußvolk der Chatten genießt die Reitertruppe der Tenkterer. So führten es die Vorfahren ein und halten es auch die Nachkommen; hierin besteht das Spiel der Kinder, hierin der Wetteifer der Jugend und die ständige Übung der Alten. Wie das Gesinde, der Wohnsitz und alle Rechte der Nachfolge vererben sich auch die Pferde; ein Sohn empfängt sie, doch nicht, wie alles andere, der erstgeborene, sondern jeweils der streitbarste und tapferste.

33. Die Brukterer, Chamaver und Angrivarier

In der Nähe der Tenkterer stieß man einst auf die Brukterer; jetzt sind, wie es heißt, die Chamaver und Angrivarier dorthin gezogen. Denn die verbündeten Nachbarstämme hatten die Brukterer geschlagen und gänzlich vernichtet, aus Erbitterung über ihren Hochmut oder aus Beutelust oder weil die Götter uns eine Gunst erzeigten; denn sie gewährten uns sogar das Schauspiel der Schlacht. Über Sechzigtausend sind dort gefallen, nicht durch römische Wehr und Waffen, sondern, was noch erhebender ist, ganz ohne unser Zutun, uns zur Belustigung und zur Augenweide. Es bleibe, so flehe ich, und bestehe fort bei den Germanenvölkern, wenn nicht die Liebe zu uns, so doch wenigstens ihr gegenseitiger Haß; denn bei dem lastenden Verhängnis unseres Reiches kann das Schicksal nichts Besseres mehr darbieten als die Zwietracht der Feinde.

34. Die Dulgubnier, Chasuarier und Friesen

An die Angrivarier und Chamaver schließen sich südostwärts die Dulgubnier und Chasuarier an sowie andere, weniger bekannte Stämme; im Norden folgen die Friesen. Nach der Volkszahl unterscheidet man Groß- und Kleinfriesen. Beide Stämme werden bis zum Weltmeer hin vom Rheine eingesäumt und umgeben, zudem unermeßliche Seen, auf denen schon römische Flotten gefahren sind.

Ja, selbst bis in die Nordsee haben wir uns dort hinaus gewagt, und wie die Kunde verbreitet, gibt es da noch Säulen des Herkules, mag der Held wirklich dorthin gelangt sein oder mögen wir uns angewöhnt haben, alles Großartige in der Welt mit seinem berühmten Namen zu verbinden.

Auch hat es einem Drusus oder Germanicus an Wagemut nicht gefehlt, doch hat die See verhindert, daß man sich über sie und zugleich über Herkules Gewißheit verschaffte. Hernach hat sich niemand mehr getraut, und es galt für frömmer und ehrfürchtiger, an die Taten der Götter zu glauben als von ihnen zu wissen.

35. Die Chauken

Bis jetzt haben wir Germanien nach Westen hin kennengelernt; nach Norden springt es in riesiger Ausbuchtung zurück. Und sogleich an erster Stelle zieht sich der Stamm der Chauken, der bei den Friesen beginnt und einen Teil der Nordseeküste besitzt, an der Seite sämtlicher von mir erwähnter Stämme hin und reicht mit einem Zipfel bis ins Land der Chatten.

Dieses unermeßliche Gebiet nennen die Chauken nicht nur ihr eigen, sie füllen es vielmehr auch aus, ein unter den Germanen sehr angesehener Stamm, der es vorzieht, seine Größe durch Gerechtigkeitsliebe zu behaupten. Frei von Habgier, frei von Herrschsucht, leben sie still und für sich; sie reizen nicht zum Kriege, sie gehen nicht auf Raub oder Plünderung aus. Das ist der vorzüglichste Beweis ihres Mutes und ihrer Macht, daß sie ihre Überlegenheit nicht auf Gewalttaten gründen. Doch haben alle die Waffen zur Hand, und sooft die Not es erfordert, steht ein Heer bereit, zahlreich an Männern und Pferden. Auch wenn sie Frieden haben, ist ihr Ruf der gleiche. Darum sind sie trotz ihrer Friedfertigkeit so hochgeachtet.

36. Die Cherusker

Als Nachbarn der Chauken und Chatten gaben sich die Cherusker unbehelligt einem allzu langen und erschlaffenden Frieden hin. Der brachte ihn mehr Behagen als Sicherheit; denn es ist verfehlt, unter Herrschsüchtigen und Starken der Ruhe zu pflegen. Wo das Faustrecht gilt, sind Mäßigung und Rechtschaffenheit Namen, die nur dem Überlegenen zukommen. So werden die Cherusker, die einst die guten und gerechten hießen, jetzt Tölpel und Toren genannt; den siegreichen Chatten rechnet man das Kriegsglück als Klugheit an.

Der Sturz der Cherusker riß auch die Foser mit sich, einen benachbarten Stamm; im Mißgeschick sind sie Bündner gleichen Rechts, während sie im Glück zurückstehen mußten.

37. Die Cimbern (Römer gegen Germanen)

In derselben Ausbuchtung, unmittelbar am Meere, wohnen die Kimbern, jetzt eine kleine Völkerschaft, doch gewaltig an Ruhm. Von der einstigen Geltung sind weithin Spuren erhalten, ausgedehnte Lagerplätze jenseits und diesseits des Rheines, an deren Umfang man jetzt noch die ungeheure Arbeitskraft dieses Stammes und die Glaubwürdigkeit des großen Wanderzuges ermessen kann.

Im Jahre 640 nach der Gründung unsere Stadt, als man unter dem Konsulat des Caecilius Metellus und Papirius Carbo zum ersten Male von den Waffentaten der Kimbern vernahm. Rechnen wir von da ab bis zum zweiten Konsulat des Kaisers Trajan, dann ergeben sich rund 210 Jahre: so lange dauert schon die Besiegung Germaniens!

Im Verlauf dieser langen Zeit erlitten beide Seiten große Verluste. Nicht der Samnite, nicht die Punier, nicht die spanischen oder die gallischen Lande, ja nicht einmal die Parther machten öfter von sich reden: stärker (gefährlicher) noch als die Königsmacht des Arsakes ist das Freiheitsstreben der Germanen. Denn was kann uns der Osten weiter vorhalten als den Untergang des Crassus? Dafür büßte er seinerseits den Königssohn Pacorus ein und mußte sich einem Ventidius beugen.

Anders die Germanen: sie haben den Papirius Carbo, den Cassius, den Aurelius Scaurus, den Servilius Cäpio und Mallius Maximus geschlagen oder gefangengenommen und so zugleich dem römischen Volke insgesamt fünf konsularische Heere entrissen, ja sogar unter Kaiser Augustus den Varus und mit ihm drei Legionen vernichtet, und nur unter schweren Verlusten unsererseits rang sie Gaius Marius in Italien, der verewigte Julius Cäsar in Gallien, Drusus, Tiberius und Germanicus in ihrem eigenen Lande nieder; bald danach nahmen die ungeheuren Drohungen des Kaisers Caligulas ein lächerliches Ende.

Seitdem war Ruhe, bis die Germanen, unsere Zwietracht und den Bürgerkrieg ausnutzend, die Winterlager der Legionen erstürmten und selbst Gallien zu gewinnen suchten. Und nachdem sie von dort wieder vertrieben waren, hat man in jüngster Zeit Siege über sie mehr gefeiert als wirklich errungen.

38. Vorbemerkung über die Gesamtheit der Sueben

Jetzt habe ich von den Sueben zu berichten. Sie sind nicht, wie die Chatten oder Tenkterer, ein einheitlicher Stamm; sie bewohnen nämlich den größeren Teil Germaniens und gliedern sich wieder in besondere Stämme mit eigenen Namen, wenn sie auch insgesamt als Sueben bezeichnet werden.

Ein Kennzeichen des Stammes ist es, das Haar seitwärts zu streichen und in einem Knoten hochzubinden. So unterscheiden sich die Sueben von den übrigen Germanen, so bei ihnen selbst die Freien von den Sklaven. Auch andere Stämme kennen den Brauch, sei es durch Verwandtschaft mit den Sueben oder, wie es häufig geschieht, durch Nachahmung; doch befolgt man ihn selten und nur in der Jugendzeit. Bei den Sueben hingegen kämmen sie bis ins hohe Alter das widerstrebende Haar nach hinten und knüpfen es oft genau auf dem Scheitel zusammen; die Vornehmen (Edelinge) tragen es noch kunstvoller.

Das ist Schönheitspflege, aber von harmloser Art; denn nicht um zu lieben oder geliebt zu werden, richten sie sich her, sondern um recht groß und furchtbar zu erscheinen, wenn sie in den Krieg ziehen: für das Auge des Feindes ist der Putz bestimmt.

39. Die Semnonen

Als die ältesten und vornehmsten Sueben betrachten sich die Semnonen. Den Glauben an ihr hohes Alter bestätigt ein religiöser Brauch. Zu bestimmter Zeit treffen sich sämtliche Stämme desselben Geblüts, durch Abgesandte vertreten, in einem Haine, der durch die von den Vätern geschauten Vorzeichen und durch uralte Scheu geheiligt ist. Dort leiten sie mit öffentlichem Menschenopfer das schauderhafte Götterfest ihres rohen Brauches ein.

Dem Hain wird auch sonst Verehrung bezeigt: niemand betritt ihn, er sei denn gefesselt, um seine Unterwürfigkeit und die Macht der Gottheit zu bekunden. Fällt jemand hin, so darf er sich nicht aufheben lassen oder selbst aufstehen; auf dem Erdboden wälzt er sich hinaus. Insgesamt gründet sich der Kultbrauch auf den Glauben, daß von dort der Ursprung der Sueben sich herleite, dort die allbeherrschende Gottheit wohne, der alles andere auf Erden unterworfen, gehorsam sei.

Der Wohlstand der Semnonen erhöht ihr Ansehen: sie bewohnen hundert Gaue, und die Größe ihres Volkskörpers veranlaßt sie, sich für den Hauptstamm der Sueben zu halten.

40. Langobarden und andere Nerthusverehrer

Dagegen macht die Langobarden die geringe Zahl berühmt: inmitten zahlreicher, sehr starker Stämme sind sie nicht durch Gefügigkeit, sondern durch Kampf und Wagemut geschützt. Dann folgen die Reudigner, Avionen, Angeln, Variner, Eudosen, Suardonen und Nuitonen; ihnen allen gewähren Flüsse oder Wälder Sicherheit. Im einzelnen haben sie nichts Bemerkenswertes, insgesamt aber verehren sie Nerthus, das heißt Allmutter Erde, und glauben, die Göttin nehme teil am Treiben der Menschen, sie fahre bei den Stämmen umher.

Es gibt auf einer Insel des Weltmeeres einen abgeschiedenen Hain, und dort steht der heilige Wagen der Nerthus, mit Tüchern bedeckt; einzig der Priester darf ihn berühren. Er bemerkt das Eintreffen der Göttin im Allerheiligsten; er geleitet sie in tiefer Ehrfurcht, wenn sie auf ihrem mit Kühen bespannten Wagen dahinfährt. Dann folgen frohe Tage; festlich geschmückt sind alle Orte, denen die Göttin die Huld ihrer Ankunft und ihres gastlichen Verweilens gewährt. Man zieht nicht in den Krieg, man greift nicht zu den Waffen; verschlossen ist alles Eisen. Dann kennt, dann liebt man nur Ruhe und Frieden, bis die Göttin, des Umgangs mit Menschen müde, vom gleichen Priester ihrem Hain zurückgegeben wird. Dann werden Wagen und Tücher und, wenn man es glauben will, die Göttin selbst in einem verborgenen See gewaschen. Sklaven sind hierbei behilflich, und alsbald verschlingt sie derselbe See. So herrscht denn ein geheimes Grauen und heiliges Dunkel, was das für ein göttliches Wesen sei, das nur Todgeweihte schauen dürfen.

41. Die Hermunduren

Dieser Teil von Suebien reicht bis in die entlegeneren Gebiete Germaniens.

Näher, von Italien her - um wie vorhin dem Rhein, so jetzt der Donau zu folgen - wohnt der Stamm der Hermunduren, der uns Römern treu ergeben ist. Daher sind sie die einzigen Germanen, die nicht nur am Donauufer, sondern auch im Inneren des Landes und in dem prächtigen Hauptort unserer Provinz Rätien (d. i. Augsburg) Handel treiben dürfen. Sie kommen allerorten und ohne Beaufsichtigung über die Grenze. Und während wir den übrigen Stämmen nur unsere Waffen und Feldlager zeigen, haben wir den Hermunduren unsere Häuser und Gutshöfe geöffnet, ohne daß sie den Wunsch danach geäußert hätten.

Im Hermundurenlande entspringt die Elbe; einst bei uns ein berühmter und wohlbekannter Fluß, jetzt weiß man von ihr nur durch Hörensagen.

42. Die Naristen, Marcomannen und Quaden

Neben den Hermunduren wohnen die Naristen und weiterhin die Markomannen und Quaden. Die Markomannen zeichnen sich durch Ruhm und Stärke aus, und sogar ihre jetzigen Wohnsitze, aus denen sie einst die Boier vertrieben, sind ein Lohn der Tapferkeit. Auch die Naristen und Quaden schlagen nicht aus der Art. Diese Gegend ist sozusagen die Stirnseite Germaniens, soweit sie von der Donau gebildet wird, gegen unser Reich.

Die Markomannen und Quaden hatten bis auf unsere Zeit Könige aus dem eigenen Stamme, aus dem edlen Geschlecht des Marbod und Tuder; jetzt lassen sie sich auch Fremde gefallen. Doch ihre Stellung und Macht verdanken die Könige dem römischen Einfluß. Wir unterstützen sie selten mit Truppen, öfters mit unser Geld, doch ist deshalb ihr Ansehen nicht geringer als bei der Waffenhilfe.

43. Die Lugier und andere Ostsueben

An die Markomannen und Quaden schließen sich im Norden und Osten die Marsigner, Cotiner, Osen und Buren an. Von ihnen geben sich die Marsigner und Buren durch Sprache und Lebensweise als Sueben zu erkennen. Bei den Cotinern beweist die gallische, bei den Osen die pannonische Mundart, daß sie keine Germanen sind, und überdies ertragen sie Abgaben (Tributzahlungen): sie müssen sie wie bei landfremden Stämmen teils an die Sarmaten, teils an die Quaden entrichten. Das ist eine besondere Schande für die Cotiner, weil sie selbst Eisen fördern.

Alle diese Stämme haben nur wenig Flachland besiedelt; meist wohnen sie auf bewaldeten Höhen und Berggipfel. Denn der Kamm einer fortlaufenden Gebirgskette teilt und durchschneidet das Suebenland. Jenseits des Kammes hausen noch zahlreiche Völkerschaften. Von ihnen haben sich die Lugier am weitesten ausgebreitet; sie gliedern sich in mehrere Einzelstämme. Ich will mich damit begnügen, die bedeutendsten zu nennen: Harier, Helveconen, Manimer, Helisier und Naharvalen.

Bei den Naharvalen zeigt man einen Hain, Sitz einer uralten Kultstätte. Vorsteher ist ein Priester in Frauentracht; die Gottheiten, so wird berichtet, könnte man nach römischer Auffassung Castor und Pollux nennen. Ihnen entsprechen sie in ihrem Wesen; sie heißen Alken. Es gibt keine Bildnisse; keine Spur weist auf einen fremden Ursprung des Kultes; gleichwohl verehrt man sie als Brüder, als Jünglinge - genauso wie Castor und Pollux.

Im übrigen sind die Harier den soeben genannten Stämmen an Streitmacht überlegen. Ohnehin von schrecklichem Aussehen, kommen sie der angeborenen Wildheit durch Kunst und Ausnutzung der Zeit zu Hilfe. Schwarz sind die Schilde, gefärbt die Leiber; dunkle Nächte wählen sie zum Kampf, und schon das Grauenvolle und Schattenhafte ihres Totenheeres jagt Schrecken ein: und kein Feind vermag solch unheimlichen und geradezu der Hölle entstiegenen Kämpfern standzuhalten. Denn was in allen Schlachten zuerst erliegt, das sind die Augen.

44. Die Goten, Rugier, Lemovier und Suionen

Nördlich der Lugier leben die Goten. Sie werden von Königen beherrscht, schon etwas straffer als die übrigen Germanenstämme, doch nicht bis zum Verlust der Freiheit. Unmittelbar an der Ostsee entlang siedeln die Rugier und Lemovier. Kennzeichnend für alle drei Stämme ist der runde Schild, das kurze Schwert und dazu der Gehorsam gegenüber Königen.

Dann kommen, schon im Meere (Inselbewohner), die Stämme der Suionen; sie haben außer Männern und Waffen auch starke Flotten. Die Gestalt ihrer Schiffe zeichnet sich dadurch aus, daß beide Enden einen Bug haben und stets eine Stirnseite zum Landen bereit ist. Auch benutzen sie keine Segel, noch machen sie die Ruder in Reihen an den Schiffswänden fest; lose, wie manchmal auf Flüssen, und je nach Bedarf hier oder dort verwendbar ist das Ruderwerk und kann vorwärts wie rückwärts eingesetzt werden.

Bei den Suionen steht auch Reichtum in Ehren, und deshalb herrscht nur einer über sie - schon ohne jede Beschränkung und mit unwiderruflichem Rechtsanspruch auf Gehorsam. Auch sind dort die Waffen nicht, wie bei den übrigen Germanen, in freiem Gebrauch, sondern eingeschlossen und bewacht, und zwar unter Aufsicht eines Sklaven. Denn plötzliche Überfälle von Feinden verhindert das Meer; außerdem neigen bewaffnete Scharen im Frieden leicht zu Ausschreitungen. Und wahrhaftig, daß kein Adliger oder Freigeborener, nicht einmal ein Freigelassener, die Waffen unter sich habe, ist ein Gebot der königlichen Sicherheit.

45. Das Nordmeer. Ästier (Bernstein!) und Sitonen

Nördlich von den Suionen liegt abermals ein Meer, träge und nahezu unbewegt. Daß es den Erdkreis ringsum begrenze und einschließe (Erdscheibe), ist deshalb glaubwürdig, weil der letzte Schein der schon sinkenden Sonne bis zum Wiederaufgang anhält, und zwar so hell, daß er die Sterne überstrahlt. Die Einbildung fügt noch hinzu, man vernehme das Tönen der emportauchenden Sonne und erblicke die Umrisse der Sonnenrosse und das strahlenumkränzte Haupt des Lenkers. Dort liegt - und die Kunde ist wahr - das Ende der Welt.

Doch weiter: an dem rechten Ufer der Ostsee bespült das suebische Meer die Stämme der Ästier. In Brauchtum und äußerer Erscheinung stehen sie den Sueben nahe, in der Sprache eher den Britanniern. Sie verehren die Mutter der Götter. Als Wahrzeichen ihres Kultes tragen sie Eberamulette: mehr als Waffen und Schutzwehr gewähren sie dem Verehrer der Göttin selbst unter Feinden Sicherheit.

Selten werden Waffen aus Eisen verwendet, häufiger Holzknüttel. Getreide und andere Feldfrüchte bauen die Ästier mit größerer Geduld an, als die übliche Trägheit der Germanen erwarten läßt.

Doch auch das Meer durchsuchen sie, und als einzige unter allen Germanen sammeln sie an seichten Stellen und schon am Strande den Bernstein, der bei ihnen "Glesum" heißt. Was er ist oder wie er entsteht, haben sie nach Barbarenart (Naturvolk) nicht untersucht oder in Erfahrung gebracht; ja er lag sogar lange Zeit unbeachtet unter den übrigen Auswürfen des Meeres, bis ihm unsere Putzsucht Wert verlieh. Die Germanen selbst verwenden ihn gar nicht; roh, wie sie ihn sammeln, und unbearbeitet wird er überbracht, und staunend nehmen sie das viele Geld entgegen. Daß es sich jedoch um den Saft von Bäumen handelt, ist unverkennbar: oft schimmern allerlei kriechende und auch geflügelte Tierchen durch, die sich in der Flüssigkeit verfingen und dann von der erstarrenden Masse eingeschlossen wurden. Wie im fernen Morgenlande, wo die Bäume Weihrauch und Balsam ausschwitzen, so gibt es, möchte ich annehmen, auch auf Inseln und in Ländern des Westens (Okzident) besonders ertragreiche Gehölze und Haine. Deren Säfte quillen unter den Strahlen der nahen Sonne hervor, rinnen flüssig in das angrenzende Meer und werden dann von der Gewalt der Stürme an die gegenüberliegenden Küsten geschwemmt. Bringt man Bernstein ans Feuer, um seine Eigenschaften zu prüfen, so brennt er wie ein Kienspan und gibt eine ölige und stark riechende Flamme hervor; hernach wird er zäh wie Pech oder Harz.

Den Suionen schließen sich im Osten die Stämme der Sitonenstämme an. Im allgemeinen den Suionen ähnlich, unterscheiden sie sich dadurch, daß eine Frau die Herrschaft hat; so sehr haben sie die Freiheit eingebüßt. Ja, sie stehen dadurch, daß sie einer Frau untertan sind, noch tiefer als ein Sklave.

46. Die Peuciner, Wenden, Finnen und andere

Hier ist das Land der Sueben zu Ende.
Ob ich die Stämme der Peuciner, Wenden (Veneter) und Finnen den Germanen zurechnen soll oder zu den Sarmaten, weiß ich nicht recht, obwohl die Peuciner, die manche auch Bastarner nennen, in Sprache und Lebensweise, Siedlungsart und Hausbau den Germanen gleichen. Aber der ganze Stamm ist im allgemeinen schmutzig, und die Vornehmen leben untätig dahin. Durch Mischehen haben sie ziemlich viel von der häßlichen Körperbildung der Sarmaten abbekommen.

Die Wenden machten sich auch in reichem Maße sarmatische Sitten zu eigen; denn was sich an Wäldern und Bergen zwischen den Peucinern und Finnen hinzieht, durchstreifen sie auf ihren Raubzügen. Gleichwohl erinnern sie eher an die Germanen, weil sie feste Häuser bauen, Schilde führen und gern und behende zu Fuß gehen, ganz im Gegensatz zu den Sarmaten, die auf Pferd und Wohnwagen zu Hause sind.

Die Fennen (Finnen) leben ungemein roh, in abstoßender Dürftigkeit. Sie besitzen keine Waffen, keine Pferde, kein festes Heim; Kräuter dienen zur Nahrung, Felle zur Kleidung und der Erdboden als Lagerstätte. Ihre einzige Hoffnung sind Pfeile, die sie aus Mangel an Eisen mit Knochenspitzen versehen. Und von derselben Jagd nähren sich die Frauen ebenso wie die Männer; denn überall sind sie dabei und fordern ihren Anteil an der Beute. Auch gibt es für die Kinder keinen anderen Schutz vor wilden Tieren und Regengüssen, als daß man sie in einem Geflecht von Zweigen birgt; dort suchen auch die Männer ihr Heim, dort haben die Greise ein Obdach. Sie halten jedoch dieses Leben für glücklicher, als ächzend das Feld zu bestellen, sich mit Häuserbau zu plagen oder Handel zu treiben, in Furcht oder Hoffnung über eigenen und fremden Wohlstand nachzudenken. Sorglos vor den Menschen, sorglos vor den Göttern, haben sie das höchste Menschenziel erreicht: wunschlos glücklich zu sein.

Alles Weitere klingt märchenhaft: daß die Hellusier und Oxionen Antlitz und Mienen von Menschen, jedoch Rumpf und Glieder von Tieren haben. Ich lasse das als unverbürgt auf sich beruhen.


 

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Tacitus über Arminius:

„Er war unstreitig Germaniens Befreier, und ein Mann,
der nicht wie andere Könige und Heerführer die erst
beginnende Macht der Römer, sondern deren
Herrschaft in der höchsten Blüte anzugreifen wagte,
in Schlachten nicht immer glücklich, im Kriege unbesiegt."

aus: Die Annalen, zweites Buch, Kapitel 88,
von Publius Cornelius Tacitus, römischer
Geschichtsschreiber (55 n. Ztr. - 117/120 n. Ztr.)

 

 

Schlesien

 
 
Das Land

Schlesien ist das Einzugsgebiet der oberen und mittleren Oder mit ihren Nebenflüssen. Die im Mährischen Gesenke entspringende Oder fließt zunächst im Breslau-Magdeburger Urstromtal und dann - nachdem sie nach einer Nordschwenkung unterhalb der Katzbachmündung den Schlesischen Landrücken durchbrochen hat - im Glogau-Baruther Urstromtal; nahe der Mündung der Lausitzer Neiße verläßt sie Schlesien. Während die rechten Oderzuflüsse (u. a. Malapane, Stober, Weide, Bartsch) wie die Oder selbst den Urstromtälern folgen, sind die linken Nebenflüsse (u. a. Zinna, Glatzer Neiße, Ohle, Lohe, Weistritz, Striegauer Wasser, Katzbach, Buber mit Queis, Lausitzer Neiße) in ihrem Lauf von der Streichungsrichtung der Sudeten beeinflußt: aus ihnen entspringend, suchen sie quer zum Gebirge einen Weg zur Oder.

So wie die Schlesien einigermaßen in der Mitte durchfließende Oder die Achse des Landes bildet, stellt das Gebirge im Süden und Südwesten die einzige natürliche, schützende Grenze dar. Schlesien lehnt sich in seiner Südostecke an die Westbeskiden und an der langen Südwestgrenze an den parallel zur Hauptrichtung des Oderlaufs vom Südosten nach Nordwesten streichenden Gebirgszug der Sudeten an. Diese beginnen im Südosten an der Mährischen Pforte mit dem Gesenke, das sich aus einer im Durchschnitt 4—600 m hohen, von Oder, Mohra und Oppa durchschnittenen Hochfläche  zu einem steilen Kamm entwickelt und setzen sich im Nordwesten im Reichensteiner Gebirge und im Eulengebirge mit Höhen bis knapp über 1000 m fort. Reichensteiner Gebirge und Eulengebirge bilden zugleich die Nordost-Begrenzung des Glatzer Kessels, der in der Form eines unregelmäßigen länglichen Rechtecks aus dem schlesisch-mährischen bzw. schlesisch-böhmischen Grenzverlauf herausspringt und ursprünglich auch nicht zu Schlesien gehörte. Die gegenüberliegende Längsseite des Kessels schließt das Habelschwerdter Gebirge ab, die südöstliche Schmalseite das Glatzer Schneegebirge, während die nordwestliche Schmalseite nur teilweise durch das quer zur Glatzer Nordwestgrenze verlaufende Heuscheuergebirge abgeriegelt wird. 

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Um die nördlichen Ausläufer dieses Sandsteingebirges legen sich in einem nördlichen Bogen des Waldenhunger Berglandes, die wiederum von Neurode über Liebau bis ins Böhmische ein Kranz von Kohlenfeldern umgibt. Das Waldenburger Bergland wird im Westen durch den Boberfluß vom Riesengebirge getrennt. Der Gebirgszone ist ein Hügelland vorgelagert. Er zieht sich vom rechtsodrigen Oberschlesien südlich der Ruda bis in die Oberlausitz hin; seine Nordgrenze wird ungefähr markiert durch die Orte Pleß, Cosel, Krappitz, Strehlen, Striegau, Jauer, Goldberg, Bunzlau und Görlitz. 

Aus diesem Hügelland ragen einige Berggruppen heraus, so die Strehlener Berge (Rummelsberg, 893 m), das Zobtengebirge (Zobtenberg, 719 m) und die Striegauer Berge (858 m). Das anschließende Flachland wird nur durch zwei sanfte Höhenzüge unterbrochen: den Oberschlesischen Muschelkalkrücken, der sich in einer Breite von etwa 20 km von der Gegend Myslowitz-Tamowitz bis zur Oder südlich Oppeln hinzieht (höchste Erhebung Annaberg, 418 m), und den Schlesischen Landrücken, der rechtsodrig zwischen Weide und Bartsch verläuft (Katzengebirge oder Trebnitzer Hügel, 255 m) und jenseits der Oder, die ihn in der Gegend Steinau-Köben durchschneidet, sich südlich Glogau und Freystadt bis zum Bober fortsetzt.

Durch seine geographische Lage ist Schlesien schon seit der Vorzeit ein Durchgangsland weitreichenden Verkehrs. Die Verbindungen zu den Nachbarländern schuf weniger die Oder - diese spielte wegen unzureichender Wasserführung, Mühlenwehren und handelspolitischer Hindernisse am Unterlauf bis ins 18. Jh. für Schlesien keine nennenswerte Rolle als Wasserweg -‚ sondern vielmehr das Landstraßennetz. Der am stärksten von der Natur vorgezeichnete Landweg war der im Mittelalter als »Hohe Straße« bekannte, eine wichtige West-Ost-Verbindung, die parallel zum Mittelgebirgszug durch das nördliche Gebirgsvorland führte, letztlich vom Unterrhein bis zum Schwarzen Meer. Schlesien war aber dank der günstigen Gebirgspässe auch in Nord-Süd-Richtung Durchgangsgebiet des Fernhandels; es sei nur an die in der Römerzeit von der Ostsee durch Schlesien nach Süden führende Bernsteinstraße erinnert. Im Mittelalter liefen die von Norden (Danzig, Thorn, Posen, Stettin) kommenden Straßen vor allem in Breslau zusammen, wo sie die Hohe Straße kreuzten, und strebten dann den Pässen nach Böhmen und Mähren zu. 

Vorgeschichte

Die Verkehrsoffenheit und die siedlungsfreundliche Landschaftskammerung führten schon in ältester Zeit zur Niederlassung von Bevölkerungsgruppen im schlesischen Raum. Die archäologischen Funde reichen bis in die Altere Steinzeit zurück. Die Jäger und Sammler der Älteren und Mittleren Steinzeit wurden in der Jüngeren Steinzeit (3500 v. Chr.) durch bäuerliche Gruppen aus dem mittleren Donaugebiet, die Träger der Bandkeramiker-Kultur, verdrängt. Sie bevölkerten zunächst die schlesischen Löß- und Schwarzerdegebiete und griffen dann auch auf die leichteren Böden der Randgebiete über. Eine neue Welle von Einwanderern aus Ungarn brachte erstmalig Geräte und Schmuck aus Kupfer ins Land; ihre Kultur ist mit dem Ortsnamen Jordansmühl verbunden (um 2000 v. Chr.). Um diese Zeit oder etwas später ließen sich, aus dem Osten kommend, neue, kulturell höherstehende Bevölkerungsgruppen, die Träger der Trichterbecherkultur, in Schlesien nieder; sie führten die Pferdezucht ein und erweiterten den Siedlungsraum, indem sie auch minderwertigere Böden Ost- und Nordschlesiens in Bearbeitung nahmen, wahrscheinlich schon mit Hilfe eines pflugartigen Ackergeräts. 

Am Ende der Kupferzeit steht die Streitaxt-, Becher- oder schnurkeramische Kultur, deren Träger ebenfalls aus dem Osten, aus Südrußland, stammten; das Material ihrer Streitäxte, die ebenso wie die Becher als Grabbeigaben gefunden werden, kamen aus Werkstätten am Zobtenberg, wo Steinbrüche geeignetes Material lieferten. Auf dem Wege des Ausgleichs war am Ende der Kupferzeit aus den aus verschiedenen Zeitschichten und Räumen hervorgegangenen Formen die sog. Marschwitzer Kulturgruppe entstanden, mit gewissen Abweichungen in Mittel- und Südschlesien einerseits und Nordschlesien anderseits, unterbrochen nur von der aus dem Westen und Süden vereinzelt eingedrungenen, hochstehenden sog. Glockenbecher-Kultur. In der Bronzezeit (1800—700 v. Chr.) entwickelt sich Schlesien wieder stärker zum Berührungsgebiet verschiedener Kulturen:


Glockenbecher              

Die Schwarmitzer oder Grobia-Śmiardowo-Gruppe in Nordschlesien zeigt Beziehungen zum nördlichen Mitteleuropa, der Osten schließt sich der Trziniec-Kultur (bis zur mittleren Weichsel) an, in Mittelschlesien verstärkt die Marschwitzer Gruppe durch Zuwanderung und Handel ihre Ähnlichkeit zur ostböhmischen Aunjetitzer Kultur.

Im 15. Jh. v. Chr. erreicht, aus Ungarn über Niederösterreich und Mähren einströmend, die nach der Bestattungssitte benannte Hügelgräberkultur den größten Teil Schlesiens; zu ihren weiteren Kennzeichen gehören vor allem Waffen und Gerät aus Bronze, die weite Verbreitung finden. Ebenfalls durch Vermittlung des ungarischen Raumes folgt um 1300 v. Chr. die schließlich ganz Mitteleuropa überdeckende Urnenfelder-Kultur, die sich in Schlesien besonders in den siedlungsbeständigen Ackerbaugebieten der Mitte und des Südens ausbreitet, während der Norden zwar die Urnenbestattung übernimmt, aber vielfach darüber noch das Hügelgrab errichtet. Neue Kulturformen dringen etwa im 12. Jh. v. Chr. aus dem nordungarischen Raum nach Süd- und in Teile von Mittelschlesien ein. Gleichzeitig oder etwas später tauchen als Gegenströmung nördlichere, etwas archaischere Formen in Mittelschlesien auf, das sich auf diese Weise aus dem früheren Zusammenhang mit Südschlesien löst und stärkere Verbindungen zum Norden entwickelt, ohne seinen Charakter als Kernlandschaft Schlesiens aufzugeben. Hier finden sich aus dieser Epoche die Befestigungsanlagen bei Oswitz unweit Breslau, und der Zobtenberg wird vermutlich damals erstmalig eine Kultstätte getragen haben.

Bei der Mittleren und Jüngeren Bronzezeit (Urnenfelder-Bronzezeit, 1250—700 v. Chr.) und der frühen Eisenzeit setzen die Versuche der Wissenschaft ein, die archäologisch erkennbaren Kulturen mit bestimmten ethnischen Gruppen in Verbindung zu bringen. So werden seit langem Vergleiche zwischen illyrischen und venetischen Gruppen der adriatischen Küste und der Bevölkerung Schlesiens gezogen und dabei geographische, insbesondere Flußnamen des schlesischen Raumes mit der Sprache dieser Stämme in Beziehung gesetzt.


     Schwertgriff (Hallstatt)

In der frühen Eisenzeit (Hallstattzeit, 700—500 v. Chr.) lassen sich in Schlesien mehrere Gruppierungen erkennen: Der Nordwesten und Westen zeigen Zusammenhänge mit dem Zentrum der Lausitzer Kultur, der Süden solche mit Böhmen und Mähren. Der Nordosten und Osten treten als Zentrum der Eisenverarbeitung hervor. Die Kultur dieser Zeit wird in Schlesien aber vor allem durch bemalte und typenreiche Gefäßkeramik bestimmt. Handelsbeziehungen von der Weichselmündung durch Schlesien zum südöstlichen Alpenrand und weiter nach Oberitalien und Bosnien zeichnen sich ab.

Um die Mitte des letzten Jahrtausends tritt in der vorher kontinuierlichen Entwicklung des schlesischen Raumes ein deutlicher Bruch ein. Aus Südrußland kommend, unternehmen die Skythen einen Beutezug bis zur Oder, viele Siedlungen werden zerstört und verlassen; nur Nordschlesien scheint verschont geblieben zu sein. Von Böhmen und Mähren wandern im 4. Jh. v. Chr. Kelten nach Schlesien ein und bringen ihre hohe Kultur mit technischen Neuerungen, ausgeprägter Gebietsorganisation und stadtartigen »oppida«. Ihre Zentren sind im linksodrigen Schlesien, aber sie werden auch in das Eisenerzgebiet rechts der Oder ausgegriffen haben.

Die Existenz der Kelten in Schlesien wurde bald durch Germanen gefährdet Die Kimbern und Teutonen (2. Jh. v. Chr.) konnten ostwärts auf die Mittelkarpaten abgedrängt werden, ein nächster germanischer Vorstoß um 100 v. Chr. zwang jedoch die Kelten zur Flucht nach Süden; nur in Südschlesien hielten sie sich noch bis nach Christi Geburt. Bei den sich in Schlesien festsetzenden Germanen handelte es sich um die «Lugier« der antiken Quellen, die den zunächst anscheinend übergeordneten Namen der Wandalen («Wandilier«) übernahmen. Ihre archäologische Hinterlassenschaft wurde daher früher als »wandalisch« bezeichnet, heute spricht man oft von der «Oder-Warthe-Gruppe« oder nach polnischem Vorbild von der »Przeworsker Kultur«. Auch die Lugier setzten sich aus verschiedenen Gruppen mit selbständigen Namen zusammen. Der Name der Naharnavalen scheint von einer Priesterkaste abgeleitet zu sein, die das Heiligtum auf dem Zobtenberg betreute, und sich erst später auf die Bewohner der Umgebung ausgedehnt zu haben. Die Nachfolge der Naharnavalen traten die Silinger an, deren Name ursprünglich auch mit einem religiösen Kult verbunden gewesen sein könnte; seit dem 4. Jh. n. Chr. war es die Bezeichnung für alle in Schlesien wohnenden Wandalen - weiter im Südosten saßen die asdingischen Wandalen. In der Jüngeren Römischen Kaiserzeit zeigen sich in der germanischen Produktion (Waffen, Schmuck, Keramik u. a.) neben eigenen Formen auch Einflüsse aus den römischen Provinzen und den gotischen Gebieten in Südrußland und sogar direkte Nachahmung provinzial-römischer Stücke. Schlesien erlebte in dieser Zeit einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung, die Bevölkerungsdichte stieg an, die Stammesorganisation mit einem Königtum an der Spitze dehnte sich fast über ganz Schlesien aus, wobei Mittelschlesien wiederum das Kernland bildete.

Die geringer werdende Funddichte deutet aber auf eine Abnahme der Bevölkerung schon vom 8. Jh. n. Chr. an hin, vielleicht die Folge der großräumigen Herrschaftsbildung in Schlesien, die Unzufriedene zur Abwanderung gezwungen haben könnte. Die Auswirkungen des Hunneneinbruchs in Europa um 375, der Schlesien nicht direkt traf, scheinen das Land um 400 erreicht zu haben. Ein Teil der Silinger schloß sich damals den westwärts ziehenden asdingischen Wandalen an. Das silingische Königtum in Schlesien ging jedoch erst ein Jahrhundert später nach dem Zusammenbruch der hunnischen Macht im Donauraum unter. Die germanischen Bewohner werden aber nicht ganz aus Schlesien verschwunden gewesen sein, als von der Mitte des 6. Jh. an Slawen in das Land einsickerten. 


Germanenkopf        

Dies bezeugen schon die geographischen Namen, die an sie zu erinnern scheinen. Dazu gehören vor allem der alte Name des Zobtenberges, der noch im 12./18. Jh. als »mons Silencii«, »Slenz« u. ä. überliefert ist, und die ursprüngliche Bezeichnung »Sclenza«, »Slenze« für den bei Breslau in die Oder mündenden Lobe-Fluß. Beide Namen werden meist auf den Stammesnamen der wandalischen Silinger zurückgeführt, der sich  auf den Slawenstamm der Siensane und von diesem schliel3lich auf das ganze Land Schlesien (lat. Silesia, poln. Śląsk) übertragen hat.

Die Slawen sind wahrscheinlich sowohl aus dem Osten als auch im Gefolge der Awaren nach Böhmen und Mähren gekommen. Sie werden die leergewordenen Siedlungsplätze der Silinger besetzt, das Land allmählich wieder mit Leben erfüllt, die Reste der Vorbewohner assimiliert haben.

Territoriale Anfänge zwischen böhmischer und polnischer Herrschaft

Der Beginn der territorial-staatlichen Entwicklung in Schlesien liegt im dunkeln. Grundlage der späteren Einheit des Landes waren die Stammesgaue, die sich schon früh innerhalb der einzelnen natürlichen Siedlungslandschaften gebildet haben müssen. Schriftlich erstmalig überliefert sind die schlesischen Stammesgaue in der Völkertafel des sogenannten Bayerischen Geographen aus der Mitte des 9. Jh.; sie kennt die »regiones« der Dedosize (im Nordwesten), Slensane (Slenzane, in Mittelschlesien), Opolane (im Osten) und Golensize (im Süden). Die Boborane und Trebowane erscheinen erst in der Bestätigungsurkunde Kaiser Heinrichs IV. für das Bistum Prag von 1086, die allerdings die Verhältnisse des späten 10. Jh. wiedergeben soll; es mag sein, daß diese beiden Stämme, von denen der erstere nach seinem Namen unschwer im Flußgebiet des Bober lokalisiert werden kann. Die Dedosize hatten ihre Hauptburg in Glogau, die Opolane — wie der Name schon verrät — in Oppeln, die Golensize in Grätz, die Boborane wohl in Bunzlau, die Trebowane vielleicht in Liegnitz; als Hauptburg des Slensane-Gebietes wird gelegentlich Nimptsch angenommen, jedoch ist zumindest in der jüngeren Stammeszeit diese Funktion Breslau zuzusprechen, das dank seiner zentralen, verkehrsgünstigen Lage schließlich zum administrativen, kirchlichen und wirtschaftlichen Mittelpunkt ganz Schlesiens geworden ist.

Bevor die Gründung des Bistums Breslau vollzogen werden konnte, sollte Schlesien zum heftig umkämpften Streitobjekt zwischen den durch Staatsgründung erstarkenden Nachbarn werden.

Als erstes Nachbarland dehnte Böhmen seine Macht über Schlesien aus. Nachdem der Premyslide Vratislav (894—921) zu Beginn des 10. Jh. die böhmischen und mährischen Gebiete unter seiner Führung vereinigt und damit wohl auch den Gau der Golensize bis zur Oder erworben hatte, eroberte er Mittelschlesien links der Oder; Breslau soll von ihm als Grenzfestung begründet und nach ihm benannt worden sein (Vratislavia). Auf seinen Sohn Boleslav 1. (935—72) wird der Name Bunzlau (Boleslavia) zurückgeführt; er soll nach dem Boborane-Gau um 950—965 das Wislanen-Gebiet um Krakau und damit auch den dazwischenliegenden Opolane-Gau seinem Reich eingegliedert sowie zeitweise sogar den Dedosize-Gau besessen haben. 


      Otto der Große

Wie damals üblich, wird die Machtausbreitung Böhmens in Schlesien mit Missionsversuchen einhergegangen oder gar mit diesen begründet worden sein; das von Bayern her missionierte Böhmen erhielt 978 mit dem Bistum Prag (Mainzer Suffraganbistum) ein eigenes Missionszentrum, das in die eroberten Gebiete hineinwirken konnte. Böhmen sollte sich jedoch nicht lange ungestört des Besitzes von Schlesien erfreuen. Auch westlich und nördlich des Landes erfolgte in jenen Jahrzehnten die Konzentration politischer Kräfte, die das Christentum in heidnische Gebiete tragen und dabei auch ihre weltliche Macht ausdehnen wollten. Westlich der Bober-Queis-Linie machte sich die energische Ostpolitik Kaiser Ottos I. bemerkbar. 

Mit der Errichtung der Kirchenprovinz Magdeburg zur Missionierung des slawischen Ostens 968 wurde in Meißen, dessen Burg von Ottos Vater Heinrich I. 929 erbaut worden war, ein Bistum gegründet. Sein Sprengel erstreckte sich ostwärts der Zwickauer Mulde über die damals eingerichtete (sächsische) Ostmark, die spätere Mark Meißen.

Um die Mitte des 10. Jh. war zwischen mittlerer Warthe, mittlerer Weichsel und Pilica ein polnischer Staat entstanden, der 966 oder 967 unter Herzog Mieszko I. aus dem Hause der Piasten (um 960—92) wohl durch Vermittlung tschechischer sowie deutscher und westeuropäischer Geistlicher das Christentum annahm und in enge Verbindung zum Römischen Reich trat. Schon in den 970er Jahren sollen die Polen im Bestreben, ihre Grenzen möglichst weit hinauszuschieben, das Gebiet der Dedosize besetzt haben. 990 drang Mieszko mit deutscher Unterstützung gegen Boleslav II. von Böhmen (972—99), seinen den Nachbarn zu mächtig gewordenen Schwager aus erster Ehe, nach Mittelschiesien vor und nahm den böhmischen Stützpunkt Nimptsch ein. Unter Mieszkos Nachfolger Boleslaus dem Tapferen (Boleslaw Chrobry, 992—1025) gelangten im Laufe des folgenden Jahrzehnts auch die Gaue der Opolane und Golensize (gleichzeitig mit dem Wislanen-Gebiet um Krakau) in polnische Hand. Bei der Einrichtung einer selbständigen polnischen Kirchenprovinz im Jahre 1000 wurde den neuen Grenzen des polnischen Staates Rechnung getragen: zu den neu begründeten Suffraganbistümern von Gnesen gehörte neben Kolberg und Krakau ein Bistum Breslau. Boleslaus der Tapfere konnte seine Macht zeitweise über Schlesien hinweg auf Böhmen (1003—04) und Mähren (1003—18/21), vor allem aber— den Tod Kaiser Ottos III. ausnutzend — nach Westen auf die (Nieder-)Lausitz und einen Teil der Mark Meißen (von 1002 mit Unterbrechungen bis 1031) ausdehnen.

Mit dem Tode Boleslaus (1025) geriet aber das von ihm aufgebaute Großreich durch innere Schwierigkeiten und Streit in Verfall, Randgebiete gingen verloren, im inneren brachte eine unter heidnischen Vorzeichen geführte Empörung (1037/38) die noch nicht verwurzelte christliche Kirche in Gefahr. In Breslau mußte der Bischof fliehen. Der böhmische Herzog Bretislav 1. (1034—55) nützte jedenfalls die Gelegenheit, um Schlesien wieder zu besetzen. 

Zwar konnten sich die Polen um 1050 wieder in Schlesien festsetzen, aber es war nur ein (allerdings großer) Teil des Landes, und auch für diesen mußten sie auf Grund des durch Kaiser Heinrich III. vermittelten Friedens von Quedlinburg (1054) den Böhmen einen Tribut zahlen, was den Anlaß zu häufigen Kriegen zwischen Polen und Böhmen lieferte. Erst der Glatzer Pfingstfriede des Jahres 1187 brachte Schlesien einen dauerhaften Frieden und eine sichere Grenze gegenüber Böhmen-Mähren. Beim Tode des Herzogs Boleslaus III. Schiefmund (Boleslaw III. Krzywousty) 1138 wurde in Polen die von ihm testamentarisch festgelegte Senioratsverfassung eingeführt, die für die vier ältesten Vertreter des Geschlechts je ein Teilgebiet, für den ältesten, den die Politik des Gesamtstaates bestimmenden Senior, obendrein das Gebiet von Krakau als Ausstattung vorsah.


Boleslaw Chrobry     

 Schlesien wurde eines der Teilgebiete, und zwar dasjenige des Seniors Wladislaus (Wladyslaw) II. Schon im 11. Jh. war es als polnisches »Herogtum« (ducatus) angesehen worden; Breslau, dessen Kastellan den Herrscher von Polen in Schlesien vertrat, entwickelte sich zum unbestrittenen Vorort des Landes. — Da das Band des Seniorats sich als zu schwach erwies, um die Teilgebiete zusammenzuhalten, vielmehr zum Anlaß blutiger Auseinandersetzungen wurde und mit dem Tode des letzten Sohnes Boleslaus‘ III. (Mieszkos des Alten) endgültig riß, führte diese Nachfolgeregelung praktisch zum Aufteilung Polens in selbständige Fürstentümer. Sie dauerte zwei Jahrhunderte, und als sie im ersten Viertel des 14. Jh. überwunden wurde, war Schlesien andere Bindungen und Verbindungen eingegangen; die Herrscher des neuen Königreiches Polen konnten nur noch das Ausscheiden Schlesiens aus dem Verband der polnischen Länder bestätigen.

 

 
 
Vom polnischen Teilfürstentum zum böhmischen Kronland (1138—1419)

Wladislaus II. (1138—46) wurde Stammvater einer selbständigen Linie der Piastendynastie, der schlesischen Piasten, die sich ihrerseits in mehrere Zweige aufspalteten. Der letzte von ihnen starb im Mannesstamm 1675 aus, viel später als die übrigen Piasten (im Königreich Polen 1370, in Masowien 1526).

Die Anfänge der schlesischen Piasten schienen allerdings nicht auf eine so lange Zukunft hinzuweisen. Wladislaus II. sah sich bald mit der Gegnerschaft seiner vier Halbbrüder konfrontiert, die mit dem Erzbischof von Gnesen und dem Adel verbündet waren. Der durch den Herzog verursachte Sturz des Palatins 1145 führte ein Jahr später zu dessen eigener Vertreibung aus dem Lande. Wladislaus suchte beim Halbbruder seiner Gemahlin (Agnes von Österreich), dem deutschen König Konrad III., Zuflucht. Zwar unternahm 1146 Konrad III. und 1157 sein Nachfolger Kaiser Friedrich I. Barbarossa einen Kriegszug gegen Polen. Im Vordergrund ihrer Unternehmungen stand aber die Wiederherstellung der Lehnsabhängigkeit Polens vom Römischen Reich, und da der nachgerückte Senior von Polen, Boleslaus IV. »Kraushaar«, diese anerkannte, erreichte er eine vorläufige Einigung mit den deutschen Herrschern, zumal da er Verhandlungen über die Wiedereinsetzung des im thüringischen Altenburg im Exil lebenden Wladislaus versprach, allerdings ohne zu solchen zu erscheinen. 

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  Stammbaum Piasten

Als Friedrich nach seinem Italienzug sich wieder der Angelegenheit zuwandte, war Wladislaus bereits verstorben (1159); der Kaiser erreichte aber 1163 für dessen drei Söhne, daß sie das Erbe ihres Vaters, Schlesien, übertragen bekamen. Diese standen auch nach ihrer Einsetzung als Herzöge von Schlesien unter dem Schutz des Kaisers; sie waren ihm allerdings auch zu einer besonderen Tributzahlung verpflichtet, trotz der Einbindung ihres Landes in die Senioratsverfassung Polens.

Die Brüder regierten Schlesien bis zum Tode des Seniors Boleslaus IV. (1173), der ihnen Schwierigkeiten bereitete und dadurch Kaiser Friedrich zu erneutem Eingreifen zwang (1172), anscheinend gemeinsam. Bei der danach vorgenommenen Landesteilung fiel mit den Gebieten Breslau, Liegnitz und Oppeln der größte und bedeutendste Anteil an den ältesten der Brüder, Boleslaus I., den Langen (Boleslaw Wysoki, 1168—1201). Verglichen damit nahm sich der Anteil des mittleren Sohnes des Wladislaus, Mieszko (1168—1211), der nur die Gebiete Ratibor und Teschen umfaßte, äußerst bescheiden aus. Dies wohl veranlaßte den neuen Senior, Herzog Kasimir II., den Gerechten (1177—94), Mieszko vom Krakauer Land! Sewerien und die Gebiete Beuthen, Nikolai und Auschwitz abzutreten (um 1178). Das Gleichgewicht zum Herrschaftsgebiet Boleslaus war damit jedoch keineswegs hergestellt, und so war Mieszko von Ratibor auf weiteren Landerwerb bedacht. Die Gelegenheit hierzu bot sich nach dem Tode seines Bruders Boleslaus I. von Breslau. Als Jaroslaus, seit 1198 Bischof von Breslau, im März 1201 und sein Vater Boleslaus I. wenige Monate später (Dez. 1201) gestorben waren, besetzte Mieszko das Oppelner Land. Boleslaus Sohn und Erbe, Heinrich, sah sich gezwungen, nicht nur auf Oppeln zu verzichten, sondern auch darin einzuwilligen, daß zwischen den von Boleslaus I. von Breslau und Mieszko I. von Ratibor ausgehenden Fürstenhäusern kein Erbrecht bestehen sollte (25. 11. 1202). Diese Bestimmung wurde maßgebend für die Sonderentwicklung des später mit dem Namen »Oberschlesien« belegten Landes. Seine Fürsten — auch die Besitzer von Teilgebieten — nannten sich fortan »Herzöge von Oppeln« und verwendeten bis ins 14. Jh. hinein den Namen »Schlesien« überhaupt nicht. Die in Mittel- und Niederschlesien regierenden Piasten hingegen führten den Titel »Herzöge von Schlesien« auch dann noch, als das Land bereits in Teilherzogtümer mit eigenen Namen zerfallen war.

Das Jahr 1202 ist für die Geschichte Schlesiens noch aus einem anderen Grunde bedeutsam: damals wurde in Polen mit dem Tode Mieszkos des Alten die Senioratsverfassung endgültig aufgehoben. Damit waren die beiden schlesischen Herzogtümer zu staatsrechtlich unabhängigen Herrschaften geworden, wenn auch durch die verwandtschaftlichen Bande zwischen den Herrscherfamilien und durch die gemeinsame Vergangenheit in zwei Jahrhunderten das Zusammengehörigkeitsbewußtsein aller polnischen Länder noch weiterlebte. Aber der langjährige Aufenthalt der Söhne Wladislaus II. in Deutschland, die vornehmlich nach Deutschland und Böhmen geknüpften Heiratsverbindungen der Fürsten und in deren Gefolge der Zuzug von Adligen und Geistlichen, schließlich die von Westen und Süden an die Grenzen Schlesiens herangeführte deutsche Ostsiedlung mit modernen Wirtschafts-, Sozial- und verfassungsformen bewirkten, daß sich das Land freiwillig der deutschen Kultur und auch den deutschen Siedlern öffnete. Dies schloß nicht aus, daß die Herren Schlesiens sich auch weiterhin in die Angelegenheiten Polens einmischten.

So nahm z. B. Heinrich I. von Schlesien (1201—88) regen Anteil an den polnischen Erbauseinandersetzungen und Machtkämpfen und baute sich auf diese Weise ein ausgedehntes Herrschaftsgebiet auf, das über seine Erblande Mittel- und Niederschlesien hinaus Teile Großpolens (bis zur Warthe) einschließlich des Landes Lebus und das Krakauer Teilgebiet umfaßte; im Westen gehörten ihm zeitweise auch der Barnim und der Teltow sowie Teile der (Nieder-) Lausitz, und als Vormund minderjähriger Fürsten regierte er auch im Oppelner und Sandomirer Land.


Deutsche Ostsiedlung             
                        

Die überragende und bleibende geschichtliche Leistung Heinrichs I., der bedeutendsten Herrscherpersönlichkeit des schlesischen Mittelalters, liegt jedoch in der entscheidenden Anregung und Förderung der Einwanderung deutscher Siedler, die einen Wandel der inneren Verhältnisse des Landes einleiteten. Zu den ersten Vermittlern westlicher Kulturformen gehörten Romanen, und zwar Wallonen; es sei auf die auf dem Zobtenberg angesetzten Augustiner-Chorherren aus Arrouaise in Flandern (zwischen 1121 und 1188), auf die wallonischen Weber in Breslau (Mitte 12. Jh.?) und Ohlau und auf wallonische Bauern in der Nähe von Breslau, Ohlau und Namslau hingewiesen. In den großen Handelszentren werden sich früh neben romanischen und deutschen auch jüdische Kaufleute niedergelassen haben; in Liegnitz lehnte sich das Judenviertel direkt an die Burg an.

Im Gefolge des aus dem thüringischen Exil heimkehrenden Herzogs Boleslaus I. (1163) werden gewiß manche Deutsche nach Schlesien gekommen sein, vielleicht auch schon Mönche aus dem Zisterzienserkloster Pforta, die 1175 einen Stiftungsbrief für das Kloster Leubus an der Oder erhielten. Darin wurde ihnen zugestanden, auf ihren Gütern Deutsche anzusiedeln. Sie haben zumindest seit der Wende zum 13. Jh. von dieser Erlaubnis Gebrauch gemacht. Im ersten Jahrzehnt des 18. Jh. setzte aber auch schon die von Herzog Heinrich I. eingeleitete systematische Ansiedlung von Deutschen ein, die in der Mehrzahl wahrscheinlich aus Mitteldeutschland einwanderten.

Die wichtigste Aufgabe, die sich Heinrich I. gestellt hatte, war die Aussetzung neuer bäuerlicher Siedlungen, die zugleich eine Sicherung der Grenzen gewähren sollten. Zunächst ergriff die Gründungswelle den Bereich des Grenzverhaus, der Preseka, dann drang sie nach außen in die Grenzwälder vor. Auf diese Weise entstand in der Regierungszeit Heinrichs I. (1201—38) und seines Sohnes Heinrich II. (1238—41) am Westrand des Landes im Bober-Queis-Gebiet und räumlich anschließend im Südwesten am Gebirgsrand auf Rodungsboden ein breiter Streifen großer deutscher Bauerndörfer, die den Kern für den deutschen Neustamm der Schlesier abgaben. Deutsche Dörfer entstanden auch in Waldinseln innerhalb des slawischen Siedlungsgebietes, so etwa im Dreieck Breslau—Liegnitz—Frankenstein. Die deutsche Besiedlung erfolgte meist auf herzoglichem Boden. Aber der Herzog schenkte für diesen Zweck auch ausgedehnte Ländereien — vor allem in Grenznähe — an geistliche Einrichtungen, die sich um die Kolonisation sehr verdient machten.


       Mongoleneinfall

Ein zweites Anliegen des Herzogs war die bessere Ausnutzung der Bodenschätze (Silber und Gold) durch die modernen Abbaumethoden deutscher Bergleute. Es ist kein Zufall, daß — abgesehen von Breslau — die beiden Bergbauorte Goldberg (1211) und Löwenberg (1217) die beiden ältesten belegten deutschrechtlichen Städte Schlesiens sind. Die Einführung des westlichen Städtewesens überhaupt war ein weiteres Ziel Heinrichs I. Neben den genannten Bergstädten erhielten bis zum Mongoleneinfall (1241) einige slawische Städte im wirtschaftlichen Sinne oder Marktorte deutsches Recht - so Breslau, Neumarkt, Zobten und Ohlau -‚ vor allem aber entstanden neue deutsche Städte als Mittelpunkte der Neusiedlungsgebiete; dazu gehörte u. a. die Städtereihe am Gebirgsrand mit Naumburg am Queis, Schönau, Bolkenhain, Striegau, Freiburg, Reichenbach, Neisse, Ziegenhals.

Der Mongoleneinfall von 1241 brachte dem schlesischen Lande zwar Verluste bei; sie waren jedoch auf die schmale Durchzugsschneise der Mongolen — etwa im Zuge der Hohen Straße von Krakau über Oppeln—Breslau bis in die Liegnitzer Gegend und dann nach Südosten zur Mährischen Pforte — beschränkt und wurden im Rahmen der unverzüglich weitergeführten Kolonisation ausgeglichen.

Die Zeit nach 1241 brachte eine starke Ausweitung der deutschen Siedlung, durchgeführt vor allem mit Menschen aus den älteren deutschen Orten Schlesiens. In Niederschlesien links der Oder rückte die Kolonisation vom Gebirgsrand ins Gebirge selbst hinauf, gefördert besonders von den Herzögen Bernhard von Löwenberg (1278—86) und Bolko I. von Jauer-Löwenberg-Schweidnitz (1278 bis 1801) sowie den Breslauer Bischöfen Thomas I. (1282—68) und Thomas II. (1270—92).

Am Ende des 13. Jh. war fast ganz Schlesien von der deutschen oder deutschrechtlichen Siedlung erfaßt; nur wenige Gebiete, vor allem in östlichen Randzonen, waren von ihr unberührt geblieben. Durch die deutsche Siedlung hatte sich das Siedlungsbild Schlesiens nicht nur hinsichtlich der Siedlungsdichte, sondern auch der Siedlungsformen vollkommen geändert. Die deutschen Dörfer waren große, planmäßige Anlagen. Im Gebirge und in seinem Vorland sowie in anderen Waldgebieten fand das sog. Waldhufendorf Verbreitung: ein beiderseits eines Talweges angeordnetes Reihendorf mit etwa 100 m Straßenanteil pro Gehöft und einer unmittelbar hinter dem Hof bergauf anschließenden Feldflur von ca. 2500 m Länge, das Maß einer fränkischen Hufe ergebend. In der Ebene traten das Straßen- und Straßenangerdorf auf, bei denen die Gehöfte dicht nebeneinander zu beiden Seiten einer Straße oder eines länglichen Angers angeordnet waren und die Felder sich auf mehrere »Gewanne« verteilten, die nach der Stellenzahl des Dorfes in schmale Streifen aufgegliedert waren. 

Der Grundbesitz eines Bauern war die Hufe, eine Maßeinheit, die auf Waldrodungsboden knapp 25 ha entsprach (»fränkische Hufe«), im Altsiedelland 16,8 ha (»flämische Hufe«). Wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Mittelpunkt einer ländlichen Siedlungsgruppe wurde eine — vielfach neben einer slawischen Siedlung begründete — Stadt, eine regelmäßige, mit einem Mauerring umgebenen Anlage, meist mit schachbrettartigem Straßennetz und einem großen rechteckigen bis quadratischen Marktplatz (»Ring«) in der Mitte, in dessen Nähe ein Platz für die Kirche ausgespart war.

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Die deutsche und deutschrechtliche Siedlung hatte wirtschaftliche, soziale, rechtliche, verwaltungsmäßige und kirchenorganisatorische Folgen. Die Siedler wurden zu dem ihnen geläufigen deutschen Recht angesetzt und ausdrücklich vom polnischen Recht eximiert. Das bedeutete für sie eine wesentliche Besserstellung gegenüber den nach polnischem Recht wirtschaftenden Bauern. Sie brauchten dem Landesherren (nach einer Anzahl von Freijahren) nur Zinsen in Form von Geld und Getreide abzuliefern, nicht aber die nach polnischem Recht üblichen verschiedenen Abgaben und Dienste zu leisten. Die Zehntleistung an die Kirche erfolgte — nach anfänglichem harten Widerstand seitens der Bischöfe — in der Regel durch Zahlung einer Viertelmark pro Hufe. Die neu eingeführte Dreifelderwirtschaft erbrachte größere Erträge als die frühere Feldgraswirtschaft. Die nahen Städte waren sichere Abnehmer der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und lieferten die benötigten handwerklichen Produkte, Bier und andere Waren, für deren Herstellung und Vertrieb sie das Monopol besaßen. Da die meisten deutschen Dörfer ihre eigene Kirche errichteten, brachte die deutsche Siedlung eine ungeheure Verdichtung des Pfarrnetzes; als Folge dessen wurde das Bistum in die Archidiakonate Breslau, Oppeln, Glogau (1227/ 28) und Liegnitz (1262) aufgeteilt. Die Städte, durch das deutsche Stadtrecht (Magdeburger, von diesem abgeleitet im schlesischen Raum das Löwenberger, Neumarkter, Neisser Recht) mit besonderen Selbstverwaltungsorganen ausgestattet, entwickelten durch Gewerbe, Bergbau und Handel vielfach beachtliche Wirtschaftskräfte, die ihnen die Handhabe gaben, von den häufig finanzschwachen Landesherren eine Erweiterung ihrer Wirtschafts- und Rechtsprivilegien zu erkaufen. Die politische Entwicklung Schlesiens entsprach keineswegs den geschilderten Fortschritten des Landes im Bereich der Wirtschaft, des Rechts und des sozialen Lebens.

Heinrichs I. Sohn Heinrich II., der Fromme, konnte das Erbe des Vaters im ganzen noch zusammenhalten, wenn auch manche außerschlesische Besitzungen verlorengingen. Ihm war aber nur eine kurze Regierungszeit beschieden: Auf ihrem Vorstoß nach dem Westen fielen im Jahre 1241 Mongolen von Krakau her nach Schlesien ein und durchzogen das Land, Schrecken verbreitend, bis in die Gegend von Liegnitz. Dort, bei Wahlstatt, stellte sich Heinrich II. mit seinem Kriegsvolk, ferner Johanniter- und Deutschordensrittern sowie groß- und kleinpolnischen Hilfstruppen tapfer dem Feinde: Heinrichs Heer wurde geschlagen, der Herzog verlor sein Leben. Auch die Zerstörungen, die die Mongolen verursacht hatten, werden nicht so katastrophal wie früher angenommen gewesen sein. 


                Zobtenberg

Schlimmer wog es wohl, daß Schlesien den Herzog verloren hatte, der vielleicht die Einheit des niederschlesischen Herrschaftsgebietes zumindest für eine zeitlang gewahrt hätte. So aber setzte unter seinen Nachkommen noch vor der Mitte des 13. Jh. eine immer weitergehende Aufteilung des Erbes ein; die Zersplitterung des schlesischen Landes ging so weit und die Zugehörigkeit einzelner Besitzkomplexe wechselte so oft, daß es vielfach unmöglich ist, sich ein Bild vom jeweiligen Zustand zu verschaffen. Nach dem Tode Heinrichs II. von Schlesien (1241) regierte dessen ältester Sohn Boleslaus II. zunächst auch für seine unmündigen Brüder. 

1248/51 erfolgte dann eine Erbsonderung: Boleslaus II. begründete das Herzogtum Liegnitz, Konrad I. das Herzogtum Glogau, Heinrich III. behielt — mit Wladislaus, dem späteren Erzbischof von Salzburg, als Mitregenten — Breslau. Schon die nächste Generation teilte die Territorien weiter auf: von Liegnitz spalteten sich die Anteile Löwenberg und Jauer, von Glogau Sagan und Steinau ab, und in der dritten Generation sonderten sich Brieg (von Breslau), Schweidnitz und Münsterberg (von Löwenberg-Jauer) sowie Oels (von Glogau) aus. Gleichzeitig veränderten sich die Grenzen zwischen den einzelnen Territorialkomplexen. — Auch das von Mieszko I. von Ratibor begründete Fürstenhaus, das sich nunmehr nach seiner neuen Residenz Oppeln nannte, blieb von Erbteilungen nicht verschont; nur setzten sie dort eine Generation später ein. Die vier Söhne Wladislaus I. von Oppeln - eines Enkels Mieszkos I. - teilten das Land 1281 in die Teilherzogtümer Oppeln, Cosel-Beuthen, Ratibor und Teschen auf. Auch hier ging die Aufteilung schon in der nächsten Generation weiter: Oppeln zerfiel in die Anteile Oppeln, Falkenberg und Groß Strehlitz, Cosel-Beuthen in Cosel, Beuthen und Tost, Teschen in Teschen und Auschwitz. — Damit war noch keineswegs das Endstadium der Teilungen erreicht; allerdings kam es gelegentlich auch zu erneuten Zusammenlegungen.

Die Teilungen waren häufig das Ergebnis heftiger, auch kriegerischer Auseinandersetzungen, an denen neben den unmittelbaren Kontrahenten auch Parteigänger beider Seiten - schlesische wie nichtschlesische - beteiligt waren. Die von außen nach Schlesien einwirkenden Kräfte kamen sowohl aus Polen, zu dem Schlesien noch in lockerer Beziehung stand, als auch aus Böhmen. Ihnen entsprach aber zugleich die Einflußnahme schlesischer Fürsten auf Vorgänge in den Nachbarländern. Vor allem das politisch ebenso zerrissene Polen bot hierzu zahlreiche Anlässe; Teile Groß- und Kleinpolens waren auch in dieser Epoche zeitweise im Besitz schlesischer Fürsten. Aber in zunehmendem Maße liefen die politischen Fäden ebenso nach Prag.

Die Regierung Herzog Heinrichs IV. von Breslau (1270—90) wirft ein Schlaglicht auf das Eingebundensein Schlesiens in das Spannungsfeld zwischen Böhmen und Polen. Nach dem Tode seines Vaters Heinrich III. (1266) übernahm dessen Bruder und Mitregent Wladislaus die Regierung in Breslau, da Heinrich IV. erst 8—9 Jahre alt war. Er wurde am Prager Hof erzogen, und 1270 wurde König Ottokar II. von Böhmen sein Vormund. Nach Ottokars Tod erhielt Heinrich nicht - wie erwartet - die Statthalterschaft in Böhmen für den minderjährigen Wenzel (II.), er wurde aber von Rudolf von Habsburg, der ihn auch zum Reichsfürsten machte, mit dem böhmischen Gebiet von Glatz entschädigt. 

Heinrich errang nicht nur eine Vormachtstellung in Schlesien, sondern es gelang ihm 1288 auch die Einnahme von Krakau, nicht zuletzt mit Hilfe der deutschen Bürgerschaft dieser Stadt. Als Erben seiner Besitzungen hatte er zunächst den böhmischen König Wenzel II. vorgesehen, am Totenbette änderte er jedoch das Testament: Heinrich III. von Glogan sollte Breslau, Primislaus II. von Großpolen Krakau erhalten, Glatz an Böhmen zurückfallen. In dem anschließenden Kampf um die polnischen Länder zwischen den Herzögen der Teilgebiete und den Königen von Böhmen siegten am Ende die kleinpolnischen Piasten; sie schufen ein neues Königreich Polen. Die schlesischen Länder aber, die angesichts ihrer Zersplitterung die Anlehnung an einen Schutz gewährenden Staat brauchten, lösten sich nunmehr endgültig aus dem polnischen Staatsverband heraus und unterstellten sich der Krone Böhmens.


Ottokar II.      

Schon 1289 hatte Kasimir II. von Cosel-Beuthen die Lehnshoheit Böhmens angenommen, andere Oppelner Fürsten waren 1292 seinem Beispiel gefolgt. Aber erst 1327 unterstellten sich die schlesischen Teilherzogtümer - damals 17 an der Zahl - endgültig unter die seit 1311 im Besitz der Luxemburger befindlichen Krone Böhmens. Die Herzöge der Oppelner Länder und von Breslau (1327), von Liegnitz, Brieg, OeIs, Sagan und Steinau (1329) reichten ihr Land freiwillig Johann von Böhmen zu Lehen auf; unter Druck erreichte der König die Huldigung von Glogau 1331 und von Münsterberg 1336. 1342 einigte sich auch der Bischof von Breslau mit dem böhmischen Herrscher und huldigte ihm für das Bistumsland, das aus der bischöflichen Kastellanei Ottmachau (vor 1155) hervorgegangene Territorium, für das die Bischöfe nach langem Streit 1290 die beschränkte, 1333 die volle Landeshoheit erworben hatten und das sie in jenen Jahren durch den Ankauf von Grottkau zu dem Fürstentum Neisse-Grottkau erweiterten, das ihnen den Titel »Fürstbischof« einbrachte. Nur der mächtige Herzog Bolko II. von Schweidnitz-Jauer, der sich auch außerhalb seiner Herzogtümer einen beachtlichen Besitz aufgebaut hatte, erkannte den böhmischen König nicht als Lehnsherrn an; mit seinem Tode 1368 kam aber sein Land doch unter böhmische Hoheit, da seine Nichte und Erbin Anna Karl IV. von Böhmen geheiratet hatte.

Inzwischen hatte König Kasimir III., der Große, von Polen 1335 im Vertrag von Trentschin auf die unter böhmische Lehnshoheit oder unmittelbare Landesherrschaft gestellten schlesischen Gebiete verzichtet. Vergebens versuchte er später, von der Vereinbarung zurückzutreten. Sein Nachfolger, König Ludwig der Große, bestätigte 1372 noch einmal den Verzicht auf alle schlesischen Herzogtümer. Damit waren die letzten politischen Bindungen Schlesiens an Polen gerissen. Bestehen blieb - da der Erzbischof von Gnesen Widerstand leistete und auch die Kurie die ihr aus den polnischen Bistümern zufließenden »Peterspfennig«-Einnahmen nicht geschmälert sehen wollte - die Zugehörigkeit des Bistums Breslau zur polnischen Kirchenprovinz Gnesen, die erst auf Betreiben Preußens 1821 aufgehoben wurde.


     Kasimir d. Gr.

Dem Lande Schlesien brachte die Unterstellung unter Böhmen die Aufnahme in das Römische Reich - denn Böhmen war ein Glied desselben - und damit eine Bindung an Deutschland, allerdings nur eine mittelbare: die schlesischen Herzöge wurden nicht Reichsfürsten, sie waren nur Böhmen untertan. Schlesien soll nach Berechnungen auf der Grundlage der Peterspfennig-Listen um die Mitte des 14. Jh. eine Bevölkerungszahl von fast einer halben Million gehabt haben; mehr als die Hälfte davon sollen Deutsche gewesen sein. Das Land besaß sogar einen solchen Überschuß an Menschen, daß es in großer Zahl Kolonisten für Großpolen, das Ordensland Preußen, Oberungarn und vor allem für Kleinpolen und Rotpreußen freigeben konnte. Breslau hatte rege Beziehungen auch zum Ostseeraum; dies kommt schon in der Zugehörigkeit der Odermetropole zur Hanse zum Ausdruck (1387 belegt) — Breslau und Krakau waren, weit entfernt vom eigentlichen Bereich der Hansestädte gelegen, die einzigen Glieder dieses Städteverbandes im südöstlichen Binnenland.

 Der wichtigste Partner Breslaus im Norden war Thorn, seit dem 15. Jh. Danzig. Entsprechend dem Wunsche der Luxemburger suchte Breslau nach Süden hin über Wien hinaus direkten Kontakt zu Venedig und erreichte ihn trotz Erschwerungen seitens der Österreicher gegen Ende des 14. Jh. Schlesien vermittelte nicht nur fremde Waren, sondern hatte auch eigene Produkte anzubieten; vor allem blühte allenthalben in den Städten die Tuchmacherei, und das Bier von Schweidnitz war ebenfalls geschätzt.

König Johann nannte sich 1344 »supremus dux Slezianorum« und umschloß mit diesem Begriff sowohl Niederschlesien als auch Oberschlesien. Schon 1327 hatte sich Bolko II. von Oppeln als Herzog von Schlesien bezeichnet; dies taten im Landfrieden von 1349—51 und fortan immer häufiger auch die anderen Fürsten der Oppelner Länder — vielleicht auf Grund des Schlesien einigenden Bandes der böhmischen Lehnsherrschaft. Karl IV. inkorporierte 1348 die schlesischen Fürstentümer förmlich der Krone Böhmens und bestätigte dies als Kaiser 1355. Die Hoheitsrechte der schlesischen Fürsten blieben allerdings unangetastet; in den Erbfürstentümern vertraten Landeshauptleute den König.

Die Zeit der Hussitenkriege und des Ringens um die Krone Böhmens (1419—1526)

Die Verbrennung des Johannes Hus in Konstanz im Jahre 1415 löste in Böhmen religiöse und nationale Agitationen aus, die der nachgiebige König Wenzel IV. von Böhmen duldete. Als Wenzel 1419 starb, verweigerten die Tschechen seinem Bruder Sigismund die Anerkennung als neuem König von Böhmen, weil er als Deutscher König Hus trotz erteilten Geleitbriefes hatte hinrichten lassen. Sigismund berief daraufhin 1420 einen Reichstag nach Breslau ein — es war der erste östlich der Elbe abgehaltene Reichstag —und beschloß Maßnahmen gegen die aufständischen Tschechen. Achtzehn schlesische Fürsten huldigten dem König und versprachen Hilfe gegen die Feinde Sigismunds. 1421 fiel ein schlesisches Heer in Böhmen ein. Die Hussiten brachten jedoch den Anhängern des Königs Niederlagen bei und boten die Krone Böhmens zunächst dem polnischen König Wladislaus II. und dann — als dieser ablehnte — Witold von Litauen an. Dieser war grundsätzlich bereit, das Angebot anzunehmen, und schickte seinen Neffen Sigmund Korybut nach Prag. Unter dem Eindruck der ersten Einfälle der Hussiten (seit 1425) kam es 1427 zur Strehlener Einung, einer gegen die Hussiten gerichteten gesamtschlesischen militärischen und politischen Organisation. Aber Schweidnitz blieb abseits, und mehrere oberschlesische Fürsten einigten sich mit den Tschechen auf eine neutrale Haltung. Ab 1427 fielen die Hussiten öfter in Schlesien ein und brannten zahlreiche Städte und Klöster nieder; am verlustreichsten war das Jahr 1428. 

Manche schlesischen Städte machten die Hussiten zu ihren Stützpunkten, von denen aus sie jahrelang die Gegenden unsicher machten; Gleiwitz war 1430/31 Standquartier Sigmund Korybuts, Kreuzburg 1430—34 Sitz des Hussitenführers Dobeslaus Puchala, auch Nimptsch und Ottmachau blieben 1430—34 bzw. 1430—35 in hussitischer Hand. Nach dem Sieg der gemäßigten böhmischen Partei (Utraquisten) über die Radikalen bei Lipan in Böhmen 1434 kam es zu einem Frieden zwischen den Tschechen und Sigismund, der nunmehr in Böhmen als König anerkannt wurde. Die Schlesier wurden von Sigismund 1435 in einem Landfrieden unter dem Breslauer Bischof Konrad von Oels als Oberhauptmann geeinigt.


Kaiser Sigismund       

Sigismunds Nachfolger als König von Böhmen und Ungarn sowie als Deutscher König wurde dessen Schwiegersohn Albrecht V. von Österreich (als Deutscher König Albrecht II.). Eine Gruppe utraquistischer Tschechen bot jedoch die böhmische Krone dem polnischen König Wladislaus III. an. Auf dessen Vorschlag wurde allerdings Wladislaus‘ jüngerer Bruder Kasimir zum Gegenkönig gewählt. In Prag konnte sich zwar Albrecht durchsetzen; im östlichen Schlesien mußten aber die Herzöge von Auschwitz, Ratibor, Oppeln und Brieg unter militärischem Druck den Jagiellonen Kasimir als König von Böhmen und damit als ihren Lehnsherrn anerkennen. Durch den baldigen Tod Albrechts (1439) änderte sich die Lage erneut: Um die Nachfolge in Ungarn stritten nun Albrechts Witwe Elisabeth für ihren nachgeborenen Sohn Ladislaus und der polnische König Wladislaus III. Polen beanspruchte auch Schlesien und überzog das Land mit Krieg. Die Mehrzahl der schlesischen Fürsten hielt zu Elisabeth; diese war aber nicht in der Lage, dem Land zu helfen.

Nach dem Tode Wladislaus III. von Polen in der Schlacht gegen die Türken bei Warna (1444) entspannte sich das Verhältnis Polen—Böhmen; Kasimir IV. von Polen — der einstige böhmische Gegenkönig — zeigte kein Interesse an Böhmen. In Böhmen selbst riß 1448 der Hauptmann von Ostböhmen Georg von Podiebrad die Macht an sich; er erhielt 1452 die Stellung eines Landesverwesers, Böhmen wurde zum Wahlkönigreich erklärt und Ladislaus Posthumus 1453 zum König von Böhmen gewählt. Die Schlesier bekannten sich zum jungen König; allerdings regte sich Widerstand gegen den eigentlichen Machthaber Georg von Podiebrad. Dieser ließ sich nach dem frühen Tode König Ladislaus‘ (1458) von den böhmischen Ständen selbst zum König wählen und belehnte seine Söhne mit den schlesischen Herzogtümern Münsterberg und Troppau (sowie mit Glatz, das auf diese Weise in engere Beziehungen zu Schlesien kam). Tschechischer Einfluß machte sich in Schlesien auch durch die Einsetzung tschechischer Adliger als Landeshauptleute der Erbfürstentümer und in andere Positionen geltend; Tschechisch wurde in weiten Teilen Schlesiens Amtssprache.

Die innere Entwicklung Schlesiens während des 15. Jh. war von der von außen hereingetragenen Unsicherheit bestimmt. Die Zersplitternng des Landes und die Machtkämpfe unter rivalisierenden Gliedern der einzelnen Fürstenfamilien hielten auch in der Zeit äußerer Bedrohung an, im Gegenteil: die Einmischung Auswärtiger bot mehr Möglichkeiten zu Parteienbildung. Randgebiete gingen damals Schlesien für immer verloren, manche Territorien kamen in die Hand nichtschlesischer Fürstenhäuser. Im Westen verkaufte Herzog Hans II. das Fürstentum Sagan 1472 an Herzog Albrecht den Beherzten von Sachsen, Schwiegersohn Georgs von Podiebrad; bis 1549 blieb Sagan wettinisch, ohne aus dem schlesischen Territorialverband auszuscheren. Dies geschah hingegen praktisch — da es sich seit etwa Mitte des 16. Jh. nicht mehr an der gesamtschlesischen Steueraufbringung beteiligte — mit dem Fürstentum Crossen, das auf Grund einer Erbschaft seit 1482 dem Kurfürsten von Brandenburg gehörte, bis 1537 nur als Pfand. Das Fürstentum Glogau erhielt 1488 ein unehelicher Sohn des Matthias Corvinns, Johann Corvinus, und nach dem Tode des Matthias nacheinander zwei Brüder des böhmischen Königs, die Jagiellonen Johann Albrecht und Sigismund, die jeweils nach Besteigung des polnischen Königsthrons (1492 bzw. 1506) Glogau wieder an Wladislaus von Böhmen zurückgeben mußten (1496 bzw. 1508). Johann Corvinus konnte dafür vom Tode seines Vaters bis 1501 das Fürstentum Troppau behaupten, das dann ebenfalls an Sigismund von Polen fiel (bis 1511). Der zweite Sohn Georgs von Podiebrad, Heinrich I. von Münsterberg, erwarb nach dem Aussterben der Oelser Piasten (1492) auch noch das Fürstentum Oels (1495).


    Rathaus Breslau

Die Wirtschaft Schlesiens verzeichnete im 15. Jh. einen Niedergang. Dies war nicht nur eine direkte Folge der Hussiteneinfälle und der damit verbundenen Zerstörungen, sondern auch durch die Unsicherheit auf den Straßen bedingt. Die sich allmählich anbahnende Direktverbindung Leipzig—Posen kam dem Bestreben Polens entgegen, die Vermittlerrolle Breslaus im West-Ost-Handel auszuschalten. Deswegen wurden zeitweise auch Handelskriege zwischen Polen und Schlesien geführt, und 1515 mußte Breslau endgültig auf sein Stapelrecht (seit 1274) verzichten. Ein Siedlungsrückgang ist schon seit dem Ende des 14. Jh. infolge der spätmittelalterlichen Agrarkrise zu verzeichnen; er wurde durch die Hussitenkriege nur noch verstärkt.

Durch Wanderung von Bauern von schlechteren Böden auf freigewordene bessere und vom Lande in die stärker unter Bevölkerungsverlusten leidenden Städte entstanden Wüstungen. Die Eisenhämmersiedlung auf der Grundlage von Raseneisenerz in sumpfigen Niederungen setzte bereits in der Mitte des 14. Jh. ein und ging auch über die bäuerliche Wüstungsperiode hinweg bis ins 16. Jh., gelegentlich sogar bis ins 17. Jh. weiter. Die Eisenhämmer breiteten sich links der Oder im Bereich der Niederschlesisch-Lausitzer Heide aus, im rechtsodrigen Schlesien in den feuchten oberschlesischen Waldgebieten, vor allem an den Oberläufen der Flüsse, ferner in Niederschlesien im mittleren Bartschgebiet. Der bergmännische Erzabbau erlebte nach der Krise des 14. Jh. seit den 1470er Jahren auch in Schlesien einen neuen Aufschwung, zunächst durch Belebung des Bergbaus in alten Bergorten der mittleren und östlichen Sudeten sowie im Beuthener Revier, dann im 16. Jh. durch die Gründung neuer Bergbaustädte in diesen Gebieten und auch in den Westsudeten.

Als positiv sind die im 15. Jh. erfolgten Ansätze einer schlesischen Gesamtstaatsverfassung zu beurteilen. König Sigismund hatte 1422 einen Landeshauptmann für ganz Schlesien eingesetzt; das war aber eine vorübergehende Einrichtung. Erst Matthias Corvinus schuf ständige gesamtschlesische Institutionen, die ihn auch überdauerten. Der König hatte stets seine Bevollmächtigten in Schlesien, für kurze Zeit »Oberlandeshauptleute«, sonst waren es »Anwälte», teilweise getrennt für Niederschlesien und Oberschlesien (diese Begriffe tauchen in der Mitte des 15. Jh. auf). Die »Fürstentage«, die seit dem Ende des 14. Jh. auf freiwilliger Basis hin und wieder stattgefunden hatten, mußten nunmehr regelmäßig abgehalten werden, mindestens einmal jährlich; auch sie fanden teils in gesamtschlesischem Rahmen, teils für Niederschlesien und Oberschlesien getrennt statt, und zwar unter Beteiligung von Vertretern der Erbfürstentümer. Die Fürstentage beschäftigten sich mit Fragen der Steuererhebung — Steuerforderungen seitens des Oberherrn waren ein Novum! —‚ der Mannschaftsstellung, des Landfriedens und des Münzwesens. Matthias Corvinus verschaffte dem Lande durch seine straffe Organisation mehr Sicherheit, vor allem die innerschlesischen Streitigkeiten wurden stark eingedämmt.

Ein Jahr vor seinem Tode beschloß König Wladislaus auf dem Wiener Kongreß von 1515 mit Kaiser Maximilian I. eine Doppelheirat zwischen den beiden Herrscherhäusern, welche die Weichen für die Schaffung des habsburgischen Großreiches im Südosten stellte: Wladislaus Kinder Anna und Ludwig sollten Maximilians Enkel Ferdinand und Maria heiraten. Schon elf Jahre später konnten die Habsburger die Früchte dieses Ehevertrages ernten: nach dem Tode des nur 20jährigen Ludwig II. von Böhmen und Ungarn in der Schlacht bei Mohacs 1526 erbte Erzherzog Ferdinand, der spätere Kaiser Ferdinand I., die böhmische und ungarische Krone; Schlesien wurde damit habsburgisch.

 

§ 14. Ausgrabungen und Funde zur Frühgeschichte im Gebiet östlich der Elbe

(W. La Baume)

In Ostdeutschland treten die ersten Burgen in der Frühen Eisenzeit (Mitte des letzten Jahrtausends vor Chr.) auf; von ihrer Erforschung durch Ausgrabungen erwartet die Geschichtsforschung sehr viel, insbesondere die Völkergeschichte, weil diese Burgen von den Trägern der Lausitzer Kultur (Illyrer) gegen die von Pommerellen nach Süden vorrückenden Träger der Gesichtsurnenkultur (Früh-Ostgermanen) errichtet worden sind. Über die früheisenzeitliche befestigte Siedlung Biskupin im Kreise Znin (Warthegau) liegt eine umfangreiche Veröffentlichung vor (Gród prasłowiański Biskupinie ... [Die urslawische Burganlage von Biskupin], Poznań, Inst. prehist. Uniw. Poznańsk, 4. 145 S.) vor. Darin werden die Ausgrabungsergebnisse von 1934 bis 1937 durch J. Kostrzewski und seine Mitarbeiter bekanntgemacht, wodurch eine frühere Veröffentlichung des Genannten wesentlich ergänzt wird. Die von einer Holz- Erde-Mauer umgebene Siedlung auf einer Halbinsel im Biskupiner See ist durch die ausgezeichnete Erhaltung der Holzhäuser, die in parallelen Reihen an Bohlwegen liegen, und durch die ebenfalls zum großen Teil erhalten gebliebene Burgmauer weithin bekanntgeworden, nicht minder auch durch die zahlreichen Kleinfunde, unter denen sich viele aus organischen Stoffen bestehende Geräte und andere Gegenstände befinden. Die Siedlung bestand im 7./6. Jh. vor Chr., war aber nicht »urslawisch«, wie Kostrzewski und sein Kreis behaupten, sondern illyrisch (in diesem Zusammenhang ist eine Karte der illyrisch-lausitzischen Burgen, S. 22, bemerkenswert). Über der früheisenzeitlichen Schicht haben sich germanische Altertümer (Fibeln u. a.) aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, und ganz oben Reste einer mittelalterlich-slawischen Siedlung gefunden. -- Über den Ausklang der früheisenzeitlichen (ostgermanisch-bastarnischen) Gesichtsurnenkultur im Gebiet der unteren Weichsel herrscht noch keine völlige Klarheit. W. Heym < 711> veröffentlicht einige Gräberfelder dieser Kulturgruppe, die östlich der Weichsel sich in breiter Zone mit der östlich benachbarten altpreußischen Kultur gemischt hat, wie besonders die Keramik erkennen läßt. Erstaunlich ist die Mannigfaltigkeit der in den Kreisen Stuhm und Rosenberg vorkommenden Grabformen der genannten Kulturgruppe. Wenn diese Friedhöfe sicher schon der Früh- und Mittel-Latène-Zeit angehören, so ist doch die Annahme des Verf.'s, ein Teil von ihnen sei spätlatènezeitlich und durch die in dieser Zeit im
 


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Weichselland herrschende Kultur der Burgunden und Wandalen hinsichtlich der Brandgrubensitte beeinflußt, sehr wenig wahrscheinlich; die Bestattungssitte allein kann für die Zeitstellung nicht ausschlaggebend sein, und die Brandgrubensitte ist nicht erst im letzten Jh. vor Chr., sondern viel früher schon nach Ostdeutschland übertragen worden.

 

Eine sehr gründliche Neubearbeitung der sog. burgundischen Kultur des letzten vorchristlichen Jh. zwischen der unteren Oder und unteren Weichsel verdanken wir D. Bohnsack < 675>. Der Verf. ergänzt die Bearbeitung der genannten Kulturgruppe von J. Kostrzewski (1919) durch Aufnahme des gesamten seitdem hinzugekommenen Fundstoffes und gelangt in den Ergebnissen, die sich auf die stammeskundliche Ausdeutung dieses Kulturkreises beziehen, in wesentlichen Punkten über die älteren Bearbeiter hinaus. Nach Bohnsack sind an der Überwanderung von Nordgermanen um 100 vor Chr. außer den Bewohnern von Bornholm (= Burgundarholm) auch andere Nordgermanen beteiligt gewesen (die üblich gewordene Bezeichnung »burgundisch« kann trotzdem beibehalten werden). Die Kulturgruppe erscheint in der Spätlatènezeit nicht in Untergruppen gespalten, wie Kossinna und Blume angenommen haben, sondern ganz einheitlich in Ostpommern, an der unteren Weichsel bis Wloclawek aufwärts und im Nordteil der Provinz Posen (Karte S. 101). In Mittelpommern ist dagegen eine frühe Gruppe vorhanden, die offenbar westgermanische Grundlage hat und erst im Laufe der Spätlatènezeit von der Kultur der ostpommerschen Burgunden überlagert wird. Die Abspaltung der Rugier in Pommern erfolgte erst in der Kaiserzeit. Südlich des Weichselbogens bei Thorn-Bromberg überschneidet sich die burgundische Kultur etwas mit der wandalischen. Nach Ostpreußen (östlich von Elbing) sind nur burgundische Einflüsse auf die Kultur der dort ansässigen Aistier (Altpreußen) ausgestrahlt. -- Die in mehrere Museen verstreuten Funde aus dem ostgermanischen Gräberfeld bei Kulm an der Weichsel, das zu den bedeutendsten Gräberfeldern des Weichsellandes gehört, hat Łęga zusammengefaßt (Prace Prehistor. Pomorskie I, Thorn 1938, polnisch mit deutscher Inhaltsangabe). Die Mehrzahl der Gräber gehört der burgundischen Kultur des letzten vorchristlichen Jh.'s an. -- Die burgundischen Funde der »Römischen Kaiserzeit« aus der Preußischen Oberlausitz hat H.-A. Schultz < 676> zusammenfassend behandelt. Es liegen sowohl Gräberfelder mit Brandgrubengräbern wie Siedlungsstellen vor, die durch die Art der Bestattung sowie Waffen und Schmucksachen als burgundisch gekennzeichnet sind; sie gehören vorwiegend dem 3. und 4. Jh. an. Diese Feststellung widerspricht der bisherigen Annahme, daß die Burgunden die von ihnen eingenommenen Gebiete in Brandenburg und in der Oberlausitz um die Mitte des 3. Jh.'s geräumt hätten, da sie bereits im 3. Jh. im Maingebiet nachgewiesen sind; auf Grund der Bodenfunde muß vielmehr angenommen werden, daß nur ein Teil der Burgunden im 3. Jh. nach Norden abgewandert ist, ein anderer Teil dagegen bis ins 4. Jh. in der Oberlausitz ansässig blieb. Nach 400 sind hier allerdings burgundische Funde nicht mehr nachweisbar. -- Im Anschluß an die Arbeit von Schultz < 676> versucht K. Olbricht eine Schätzung davon zu geben, in welcher Stärke die burgundische Siedlung der Oberlausitz vorzustellen ist (etwa 25_000 auf etwa 1000 qkm Fläche), und Fr. Lehmann fügt einen Überblick über die Burgundenfunde der Sächsischen Oberlausitz hinzu.
 


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Aus dem westgermanischen Gebiet östlich der Elbe brachte das Berichtsjahr zwei wichtige Beiträge zur Siedlungs- und Stammesgeschichte der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Die Fortsetzung der Grabung in der germanischen Siedlung bei Hodorf in Holstein (1.--4. Jh.), über welche Haarnagel berichtet (Nachrichtenbl. f. deutsche Vorzeit 14, S. 19 ff.), zeitigte gute Ergebnisse für die Feststellung der Gehöftanlagen. Es waren Bauernhöfe, die aus einem Haupthaus und mehreren kleinen Gebäuden (Wohnbauten für das Gesinde und Stallungen) bestanden. Ein Speicherbau in Hodorf ist ein Gegenstück zu einem Pfahlbau auf der vorgeschichtlichen Wurt Ezinge in Holland, wodurch die nahe Verwandtschaft der Küstensiedlung bei Hodorf mit den von van Giffen untersuchten holländischen Wurtbauten erwiesen wird. --Kuchenbuch < 721> hat die altmärkisch-osthannoverschen Schalenurnenfelder der spätrömischen Zeit zusammenfassend untersucht. Dem genannten Gebiet ist eine Reihe von Erscheinungen eigentümlich, die in den andern altgermanischen Landschaften nicht die gleiche Verbreitung besitzen. Schalenurnen des 3./4. Jh.'s mit Rädchenverzierung finden sich ausschließlich in der Altmark und in Osthannover; in den andern elbgermanischen Gebieten fehlen sie fast ganz (die rädchenverzierten Urnen der havelländischen Gruppe sind älter, und in Böhmen kommen solche nur an einer Fundstelle vor). Mit dieser Verbreitung deckt sich das hauptsächliche Vorkommen bestimmter Fibelformen. Die Funde des 3./4. Jh.'s zeigen über das ganze Gebiet Osthannovers und der Altmark hin eine großartige Einheitlichkeit, die nur durch die gleiche Stammeszugehörigkeit der Träger dieser Kulturgruppe erklärt werden kann. Nach Ansicht des Verf.'s liegt hier die Hinterlassenschaft der Langobarden vor, die im 1. und 2. Jh. im Bardengau (in den Kreisen Ülzen, Lüneburg und Winsen sowie im Kreis Harburg) ansässig waren und sich dann in die Altmark und nach Osthannover ausbreiteten. Durch den Ausgriff der Besiedlung in die südöstlich benachbarten Landstriche gegen Ende des 2. Jh.'s ergab sich eine Verlagerung des Schwerpunktes der Besiedlung vom Ilmenautal ins Jeetze- und Biesetal. Anfang des 5. Jh.'s erfolgte die Weiterwanderung der Langobarden (wahrscheinlich elbaufwärts) nach Böhmen, Mähren und Niederösterreich. --Westgermanisch ist ein Teil der Waffen, die in der Warnow bei Schwaan in Mecklenburg in erstaunlicher Anzahl bei Baggerarbeiten gefunden wurden und von J. Bekker < 173> beschrieben werden. Den Umstand, daß diese Waffen ganz verschiedenen Jahrhunderten angehören, sucht der Verf. geschichtlich zu deuten. Wahrscheinlich sind diese Funde mit einer uralten Handelsstraße, die in den Schriftquellen via regia genannt wird und für den Zug von Osten nach Westen benutzt wurde, in Verbindung zu bringen. Die Waffen aus dem 12. Jh. könnten auch von einer Schlacht herrühren, die 1160 zwischen den Dänen und Wenden stattgefunden hat.

Zur Kenntnis der ostgermanischen Besiedlung in Pommern und Westpreußen tragen einige Aufsätze bei, die in der Festschrift für B. Ehrlich < 230> erschienen sind. So gibt O. Dibbelt ostgermanische Gräber aus dem Kreise Kolberg-Körlin bekannt; A. Ruppelt würdigt kurz die Bedeutung des gotisch-gepidischen Gräberfeldes Braunswalde-Willenberg bei Marienburg, Westpreußen, das mit seinen fast 3000 Gräbern eines der größten bis jetzt überhaupt bekannten germanischen Gräberfelder ist; und W. Neu-
 


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gebauer gibt im Anschluß an neue Funde auf dem Boden der Stadt Elbing eine Übersicht über die gotisch-gepidischen Fundstellen im Kreise Elbing (mit Karte). -- Die verschiedenen Ansichten über die Frage, welchen Weg die Goten auf ihrer Wanderung vom Gebiet der unteren Weichsel nach dem Gestade des Schwarzen Meeres genommen haben, werden von Wachowski < 743> erörtert; er schließt sich der Ansicht des tschechischen Forschers Niederle an, die Goten seien längs der Weichsel und des Bug durch das Stromgebiet des Pripet und durch Polesien gezogen. Dieser Zug sei auf den Handelswegen erfolgt. Das Gebiet, durch das die Goten zogen, sei nicht von Germanen (Wandalen) besiedelt gewesen, wie die deutschen Vorgeschichtsforscher annehmen, sondern von den Wenedern, die nach Ansicht des Verf.'s Slawen waren. Auf die von den Goten benutzten Handelswege weisen nach dem Verf. auch die zahlreichen Münzschätze des 2. und 3. Jh.'s hin, die in zwei großen Gruppen, die eine im Bezirk von Kiew und Czernichow, die andere in Wolhynien am Oberlauf des Horyn und des Styr auftreten. -- Auf dem bedeutenden ostgermanischen Friedhof bei Schönwarling Krs. Danziger Höhe, der durch 7 Jahrhunderte ohne Unterbrechung belegt worden ist, haben neue Ausgrabungen des Danziger Museums für Vorgeschichte stattgefunden, deren Ergebnisse R. Schindler (Weichselland 1938, Heft 3) bekanntgegeben hat; darunter befindet sich ein reich ausgestattetes gotisches Frauengrab mit erstmalig beobachteten Schmucksachen. -- Über die germanische Zeit Böhmens gibt Preidel < 745> eine dankenswerte Übersicht, in welcher zwar die Bodenfunde im Vordergrund stehen, jedoch auch die geschichtlichen Quellen weitgehend herangezogen werden. Germanische Funde sind im nördlichen Böhmen schon seit dem 3. Jh. vor Chr. vorhanden, wenn es auch noch unklar ist, welchem Stamm diese zuzuschreiben sind. Nach der vorübergehend keltischen Besiedlung Böhmens während des letzten vorchristlichen Jh.'s wurde das Land markomannisch und bleibt es bis zum 5. Jh., obwohl Teile der Markomannen abwanderten. Noch sehr unklar sind die Besiedlungsverhältnisse im 5. Jh., in welchem mit der Zuwanderung anderer Germanenstämme zu rechnen ist; in Frage kommen Baiwaren, Thüringer und Langobarden, auch ist mit der Ausbreitung des ostgotischen Herrschaftsbereiches über Böhmen zu rechnen. -- Von Nordböhmen wurde bisher angenommen, es sei in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten siedlungsarm oder gar unbesiedelt gewesen. Diese Anschauung wird widerlegt durch die Entdeckung eines umfangreichen Gräberfeldes bei Prestowitz in der Gegend von Strakonitz. Das Fundinventar, das von Dubský < 741> veröffentlicht wird (unter besonderer Berücksichtigung der Tonware), erweist, daß bei Prestowitz eine ansehnliche germanische Siedlung bestanden hat, die im letzten Drittel des 2. Jh.'s begonnen und bis in die 1. Hälfte des 5. Jh.'s gedauert hat. Der Fundstoff zeigt so viel Besonderheiten, daß der Verf. ihn zum Anlaß nimmt, eine Prestowitzer Stufe als Zeit- und Kulturgruppe aufzustellen, die nach seiner Ansicht ein selbständiges Glied innerhalb der »provinzialrömischen« Kultur Böhmens bildet. Die Veröffentlichung von Dubský bedeutet eine willkommene Erweiterung unserer Kenntnis von der germanischen Besiedlung Böhmens.

 

Das auf sehr breiter Grundlage angelegte Buch von Moora < 712>, das die Eisenzeit in Lettland bis etwa 500 nach Chr. behandelt, ist eine grundlegende Arbeit über die ostbaltische Kultur der nachchristlichen Jahrhunderte
 


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und als solche auch für das benachbarte ostpreußische Gebiet von großer Bedeutung. Denn die altpreußische Kulturgruppe ist der ostbaltischen (litauischen und lettischen) sehr nahe verwandt und hat selbst mit der estischfinnischen Kultur der Eisenzeit viele Berührungspunkte. Die memelländische Kultur, die mit der südwestbaltischen einen Kulturkreis bildet, wird vom Verf. ausführlich in den Kreis der Betrachtung gezogen. Die zahlreichen und starken Einflüsse der ostgermanischen Kultur des Weichsellandes auf das Ostbaltikum werden von Moora anerkannt, jedoch wird vom Verf. mit Recht betont, daß eine germanische Besiedlung für die Zeit bis 500 nach Chr. (die spätere Zeit behandelt sein Buch nicht) im Ostbaltikum nicht in Frage kommt.

 

Eine von E. Petersen < 673> gegebene Übersicht über das Schrifttum zur germanischen Frühzeit des Ostens ist vor allem deshalb sehr verdienstlich, weil sie den Inhalt polnischer Veröffentlichungen über vor- und frühgeschichtliche Untersuchungen wiedergibt; sie erstreckt sich über die Zeit von dem ersten Auftreten der Ostgermanen in der Frühen Eisenzeit bis zum Frühen MA. Unter den frühgermanischen Funden aus Ostpolen sind einige deshalb bemerkenswert, weil sie die Brücke schlagen zu Funden der gleichen Kultur in der Ukraine und so die Annahme bestätigen, daß die Bastarnen die Träger der Gesichtsurnenkultur waren. Bei der Besprechung polnischer Arbeiten, die sich mit der Lausitzer Kultur der Frühen Eisenzeit beschäftigen, verweist Petersen erneut auf die verfehlten Versuche der polnischen Forschung, diese Gruppe, in welche u. a. die befestigte Siedlung Biskupin gehört (siehe oben), als urslawisch in Anspruch zu nehmen. Durch mehrere Arbeiten über germanische Funde der ersten nachchristlichen Jahrhunderte in Polen wird unsere Kenntnis der Ausbreitung der Goten wesentlich ergänzt; Petersen erwähnt bei ihrer Aufzählung auch die römischen Einfuhrwaren, deren Auftreten für die Frage des vorgeschichtlichen Handels und der Verkehrsstraßen von großer Bedeutung ist. Ausführlich setzt sich der Verf. mit einer Arbeit von Kozlowski auseinander, worin dieser nachzuweisen versucht, die von den deutschen Forschern als wandalisch angesehene Kultur sei die der Weneder der alten Geschichtsquellen gewesen; Wandalen oder Wandilier sei ein Sammelname für Goten, Burgunder, Rugier u. a. gewesen, und die Weneder (einschl. Lugier und Silingen) waren nach Kozlowski Slawen. Demgegenüber betont Petersen den zweifellos germanischen Charakter der wandalischen Kultur in Ostdeutschland und Polen. Petersens Zusammenfassung bringt schließlich Hinweise auf deutsche und polnische Arbeiten über Funde des 6. und 7. Jh.'s, die teils die Fortdauer der ostgermanischen Kultur bis in diese Zeit, teils deren Überschneidung mit den ersten Anzeichen der frühslawischen Kultur erkennen lassen, wie z. B. Tonware aus einigen schlesischen Burgwällen, die nach P. dem 7. und 8. Jh. angehört. -- Für die Beurteilung des germanischen Kunstgewerbes der Völkerwanderungszeit ist eine stilgeschichtliche Untersuchung von Forssander < 723> wichtig, deren Inhalt bereits im Jahresbericht für 1937, S. 236 wiedergegeben wurde.

Die Kenntnis der mittelalterlich-slawischen Kultur Ostdeutschlands ist durch einige Untersuchungen deutscher Forscher gefördert worden. So hat H. A. Knorr < 192> die slawischen Messerscheidenbeschläge bearbeitet, die in den Grabfunden eine große Rolle spielen. Obwohl bei den mittelalterlichen Slawen das Messer sehr häufig als Grabbeigabe bei
 


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Männer- wie Frauengräbern auftritt, gibt es Messerscheidenbeschläge ausschließlich im Gebiet der Küstenslawen (Obotriten, Wilzen, Pomoranen und einem Teil der Polanen), die sich durch eine höher entwickelte Kultur von den binnenländischen Slawen unterscheiden. Zur Feststellung des slawischen Ostseekulturkreises sind daher die Messerscheidenbeschläge, die Knorr zum Gegenstand seiner umfassenden Untersuchung gemacht hat, sehr geeignet. Nach dem genannten Verf. gehören alle diese Beschläge in die spätslawische Zeit (11./12. Jh.). Für die Bodenforschung, die sich mit den frühmittelalterlichen Altertümern beschäftigt, ist daher die Arbeit von Knorr eine wichtige Grundlage, um so mehr, als der Verf. seine Untersuchungen auch auf die benachbarte ostbaltische Kultur ausgedehnt hat. Er nimmt an, daß sich die Sitte der Messerscheidenbeschläge vom ostbaltischen Gebiet her auf das Land der Küstenslawen in Ostdeutschland ausgedehnt hat; die Beschläge lassen im slawischen Gebiet eine Eigenentwicklung erkennen und zeigen gleichzeitig die starken Beziehungen der Küstenvölker untereinander. -- Daß die gründliche Untersuchung der frühmittelalterlichen Tonware für die Beurteilung der geschichtlichen Vorgänge unerläßlich ist, hat sich bei der in letzter Zeit mehrfach mit bestem Erfolge angewandten Zusammenarbeit zwischen Bodenforschung und Geschichtswissenschaft erwiesen. Im Rahmen dieser gemeinsamen Untersuchungen ist es daher sehr zu begrüßen, daß es Hucke < 191> unternommen hat, die slawische Tonware aus der Landschaft Wagrien zusammenfassend zu bearbeiten und zur Grundlage der Feststellung slawischer Besiedlung dieser Landschaft zu machen. Danach kann die älteste slawische Tonware nicht vor dem 9. Jh. in Wagrien (Ostholstein) angesetzt werden (Gruppe I); die jüngste Gruppe (III) gehört der Zeit um 1100 an. Die Besiedlung Ostholsteins durch die Slawen ist somit nicht vor 800 nachweisbar; sie ist anscheinend im Laufe des 8. Jh.'s ganz allmählich vor sich gegangen. Für die Siedlungsgeschichte der Altslawen in Wagrien wurden vom Verf. außer den Bodenfunden auch die schriftlichen Quellen, die Ortsnamenforschung und die siedlungsgeographischen Tatsachen herangezogen; ferner sind vom Verf. auch die Hacksilberfunde aus Wagrien und die aus diesem Gebiet stammenden Wikingerfunde mit berücksichtigt worden. Von den Einzelergebnissen sei hervorgehoben, daß nach Ansicht des Verf.'s auch die jüngste slawische Tonware in Ostholstein Handarbeit (also nicht Drehscheibenarbeit) ist und die Tonware der Mittelstufe starke Einflüsse aus dem nordischen Gebiet erkennen läßt. -- Für die Geschichte des Frühen MA.'s kann aus den Silberhortfunden mancherlei erschlossen werden, besonders da diese vielfach Münzen enthalten, die eine genaue Datierung ermöglichen. Zum mindesten für die Handelsgeschichte, aber auch für die politische Geschichte sind solche Funde wichtig. Eine kritisch gesichtete Zusammenstellung der aus Westpreußen bis jetzt bekannten Silberhortfunde wurde von La Baume < 166> veröffentlicht. Diese beginnen im 9. Jh.; die größte Zahl gehört dem 11. Jh. an, nur wenige Funde stammen aus dem 12. Jh. Während die Silberhortfunde des westslawischen Gebietes mannigfach zusammengesetzt sind, fehlt das Hacksilber z. B. im altpreußischen Gebiet ganz, obwohl dort ebenfalls frühmittelalterliche Hortfunde aus Silber vorkommen.

 

Über größere Grabungen auf ostdeutschen Burgwällen des Frühen MA.'s ist im abgelaufenen Jahr nicht berichtet worden. In Ostpreu-
 


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ßen hat sich bei Probegrabungen auf der Schwedenschanze bei Kringitten im Samland nach C. Engel (Elbinger Jahrb. 15, S. 156ff.) ergeben, daß es sich um eine wahrscheinlich nur kurze Zeit benutzte Fliehburg von ungewöhnlich einfacher Art handelt, die wahrscheinlich in der Ordenszeit zerstört worden ist; die Wallanlage (mit Holz-Erde-Mauer) zeigt zwei Bauzeiten. -- Daß sich die Reste von zwei Pfahlbrücken, die vom Ufer eines Sees zu einer frühma.lichen altpreußischen Burg auf einer Insel hinführten, bis heute erhalten haben, ist ein seltener Fall; er liegt vor in Klein-Ludwigsburg, Kr. Rosenberg, Westpr. Die Brücken, die von W. La Baume (Elbinger Jahrbuch 15, S. 147 ff.) beschrieben werden, haben, wie die Burg, die noch nicht durch Ausgrabung untersucht ist, während des 11./12. Jh.'s bestanden; die Pfähle, welche die Brücken trugen, sind schon vor langer Zeit zum Vorschein gekommen, als man den See, in dem die Inselburg liegt, abließ. -- In Anbetracht der großen Bedeutung, welche die Burgwallanlagen des Frühen MA. für die Geschichte des altpreußischen Landes haben, ist es erfreulich, daß H. Crome ein Verzeichnis der alten Wehranlagen Ostpreußens veröffentlicht hat < 1551>, das, mit Hinweisen auf Schrifttumsangaben versehen, ein willkommenes Hilfsmittel für die Forschung darstellt.

 

Eine großzügig angelegte Geschichte der Wikinger mit vielen neuen Gesichtspunkten und Anregungen verdanken wir O. Scheel < 803>. Der Untertitel: »Aufbruch des Nordens« zeigt, wie der Verf. die nordgermanischen Bewegungen, d. h. nicht nur die der eigentlichen Wikingerzeit, sondern auch die vorausgehenden der Römerzeit und der Völkerwanderungszeit auffaßt: als weltgeschichtliche Leistung der Germanen, die Anlieger des »nördlichen Mittelmeeres« (Nord- und Ostsee) waren. So gesehen ist die germanische Völkerwanderung und die Wikingerbewegung dem Wesen und den Auswirkungen nach dasselbe. Dementsprechend bezieht Scheel den Kampf der Küstengermanen gegen die Römer, den Krieg der Sachsen gegen die römische Seeflanke sowie die angelsächsische Eroberung und Landnahme in Britannien in den Kreis seiner Betrachtungen ein. Nach der Erörterung der Ursachen der nordischen Bewegung werden die mit den Wikingerzügen in fast allen Teilen Europas im Zusammenhang stehenden geschichtlichen Ereignisse geschildert, immer mit dem Blickpunkt vom Norden her und mit der Absicht, sie aus der Welt des Nordens zu begreifen. Scheels Wikingerbuch im ganzen zu würdigen, ist hier nicht die Aufgabe des Berichterstatters; es sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, daß der Verf. weitgehend die Ergebnisse der Bodenforschung als Grundlagen für Schlüsse geschichtlicher Bedeutung herangezogen hat, was ihm besonders die Archäologen danken werden. Wie im einzelnen bei der Untersuchung frühgeschichtlicher Ansiedlungen durch planmäßige Ausgrabung -- es sei in diesem Zusammenhang nur an Birka, Haithabu, Wollin, Truso-Elbing und Grobin erinnert --, so zeigt sich auch in einer Überschau zur Wikingergeschichte, wie sie in Scheels Buch vorliegt, der große Wert gemeinsamen Vorgehens benachbarter Forschungszweige, die mit verschiedenen Arbeitsweisen die gleichen geschichtlichen Probleme anpacken. -- Die Darstellung des geschichtlichen Ablaufes im Bereich der Nord- und Ostsee von der Zeit um Chr. Geb. bis zum MA. ist der Inhalt eines von Scheel < 744> in Riga vor dem Historikerkongreß gehaltenen Vortrages.

In Schleswig-Holstein standen, wie in den Vorjahren, die Ausgrabungen
 


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am Danewerk und in Haithabu im Vordergrunde der archäologischen Forschung. Die Ausgrabungen am Danewerk, deren Ergebnisse Haseloff < 172> vorlegt, haben wesentliche neue Erkenntnisse geliefert. Grundlage für die Zeitbestimmung der einzelnen Wälle und Mauern bildet ihre Lage zu den beiden Siedlungen Schleswig und Haithabu. Sophus Müller, der die Stadt Schleswig auf dem Nordufer der Schlei als das alte Sliaswig aus dem Anfang des 9. Jh.'s, die Stadt Haithabu dagegen als eine jüngere Gründung angesehen hatte, erklärte demzufolge den Nord- und Hauptwall des Danewerkes für die Anlage Göttriks vom Jahre 808, dagegen den Verbindungswall und den Kograben für ein Werk von Harald Blauzahn bzw. für eine ma.liche Befestigung. Nachdem durch die Grabungen des Kieler Museums erwiesen war, daß das alte Sliaswig auf dem Südufer der Schlei gelegen hat und mit der Stadt Haithabu gleichbedeutend ist, sowie ferner, daß Haithabu bis in das frühe 9. Jh. zurückreicht, entstand eine neue Problemstellung um das Danewerk, deren Lösung nur durch genaue Kenntnis der einzelnen Anlagen und somit durch Ausgrabungen erzielt werden konnte. In Ergänzung der schon 1935 durch Jankuhn veröffentlichten Ergebnisse der Grabung am Stadtwall und am Kograben legt Haseloff < 172> nun die Ergebnisse seiner Grabungen am Hauptwall des Danewerkes und am Krummen Wall vor. Der Hauptwall des Danewerkes besteht danach aus einem älteren Erdwallkern (Bauzeiten 1--4), einer davorgelegenen Feldsteinmauer (Bauzeiten 5--7), und aus der Ziegelsteinmauer König Waldemars (Bauzeit 8); darüber liegen dänische Schanzanlagen des 19. Jh.'s (Bauzeit 9). Die älteren Anlagen 1--4 zeigen das Verteidigungsprinzip des Holzerdewalles mit hölzerner Front und dicht davorliegendem Graben. In den Bauzeiten 1--3 sind Umbauten zur Verstärkung der Befestigungsanlagen ausgeführt worden; der 4. Wall ist eine Erneuerung, die durch eine Absturzkatastrophe nötig wurde. In der 5. Bauzeit wurde eine Feldsteinmauer vor die Front des 4. Walles gelegt, die, mit Lehm gefugt, der Witterung nicht standhielt; daher wurde in der 6. Bauzeit die Bauart abgeändert (Aufschüttung hinter der Mauer, Wehrgang auf der Krone des Walles). Nach erneutem Absturz wurde die Steinmauer mit Erdreich überschüttet (Bauzeit 7). Nach diesen Erfahrungen über die Unzulänglichkeit der vorherigen Bauten scheint sich König Waldemar d. Gr. zu der eben im Norden auftauchenden Kunst des Ziegelbaues entschlossen zu haben, und zwar wurde die Ziegelmauer unmittelbar vor der Front des letzten Baues errichtet (Bauzeit 8). Haseloff gibt eine ausführliche Beschreibung des Ausgrabungsbefundes und unter Mitwirkung von M. Rudolph eine Rekonstruktion der Waldemarsmauer samt ihrem Wehrgang, wobei er sich auch auf die von Chronisten des 17. und 18. Jh.'s überlieferten Mitteilungen über den damaligen Zustand der Mauer stützt. Die Bedeutung ihres Schöpfers Waldemar liegt nicht so sehr in der Einführung des Ziegelbaues im Norden als vielmehr in der Übertragung dieser Bauart auf den Wehrbau. Die Ergebnisse der neuen Grabung am Danewerk haben gezeigt, daß die von Sophus Müller und C. Neergaard aufgestellten Datierungen unhaltbar sind. Grundlage für die neue Chronologie der Wälle ist die Altersbestimmung der Stadt Haithabu und ihres Verhältnisses zu Schleswig; außerdem die Typologie der Wälle. Die Bautätigkeit Göttriks aus dem Jahre 808 und die Errichtung der Waldemarsmauer zwischen 1151 und 1182 sind die Eckpfeiler, zwischen die sich die einzelnen Anlagen einordnen müssen.
 

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Von den Wällen des Danewerkes kann nur der Kograben als Göttrikswall angesehen werden; damit stimmt überein, daß dieser als verhältnismäßig kleine Wallanlage mit Spitzgraben den typologisch ältesten Wallzug des Danewerkes darstellt. Dagegen ist der Hauptwall des Danewerkes so gerichtet, daß er Haithabu aus der Verteidigungslinie ausschließt; er kann nur in einer Zeit entstanden sein, als sich Haithabu nicht mehr in dänischer Hand befand (zwischen dem Ende des 9. Jh.'s und 1025). Die typologische Einordnung läßt erkennen, daß der Hauptwall zu der späteren Gruppe von Wällen gehört, die vom Spitzgraben zum Sohlgraben übergegangen sind. Er muß später als der Kograben sein; seine Entstehung kann nur in das 10. Jh. fallen, wofür die historischen Nachrichten den Namen der Königin Tyra als Bauherrin überliefern. Am wahrscheinlichsten ist die Zeit zwischen 935 und 950. Die Feldsteinmauer ist wahrscheinlich um 1100 entstanden; als ihr Erbauer ist Knud Laward anzunehmen, denn die Technik dieser Mauer weist auf westdeutschen Einfluß hin und Knud Laward war für deutsches Wesen sehr eingenommen. Der Erbauer der Waldemarsmauer war sein Sohn. -- Unter den Ergebnissen der Ausgrabungen von 1937 in Haithabu ist nach einer Mitteilung von Jankuhn (Nachrichtenbl. f. deutsche Vorzeit 14, S. 26 ff.) die Auffindung einer 17 m langen Halle bemerkenswert, die dem 9. Jh. angehört. Die in der Niederung des Bachbettes abgedeckte Fläche von 1500 qm hat Aufschlüsse über die Stadtplanung ergeben. -- In einem auf dem Historikerkongreß in Riga gehaltenen Vortrage befaßt sich Jankuhn < 174> mit dem Problem, wie die Vielheit der Namen zu erklären ist, die für die ma.'liche Stadt an der Schlei überliefert sind (Sliesthorp in den Fränk. Annalen Anfang des 9. Jh.'s; Sliasvich bei Rimbart Mitte des 9. Jh.'s; Haethum in angelsächsischen Quellen Ende des 9. Jh.'s, und Haithabu auf Runensteinen des 10. Jh.'s). Dieses Problem hängt aufs engste mit der Frage, wann die Siedlung in Haithabu beginnt, zusammen. Die schriftliche Überlieferung sagt darüber nichts Bestimmtes aus; wohl aber ergibt die archäologische Untersuchung sichere Anhaltspunkte. Einige in Haithabu gefundene Schmucksachen berechtigen zu der Annahme, daß bereits vor dem Eindringen der schwedischen Dynastie eine Siedlung innerhalb des Halbkreiswalles bestand. Auch unter den Tongefäßen sind solche enthalten, die ins 9. Jh. zu setzen sind, und zwar gilt dies nicht nur für eine, sondern für drei Keramikgruppen verschiedener Herkunft. Haithabu muß daher bald nach 800 besiedelt worden sein. Daß in so früher Zeit oder etwas später eine zweite Stadtsiedlung nicht weit davon nördlich der Schlei gelegen haben könnte, ist nicht wahrscheinlich und läßt sich auch durch Bodenfunde aus dem Untergrund von Schleswig nicht beweisen. Da anderseits die Siedlung im Halbkreiswall mehrere Jh. (bis Mitte des 11. Jh.'s) bestanden haben muß, wie die Funde beweisen, so sind offenbar verschiedene Namen für dieselbe Ansiedlung gebraucht worden und bedeuten nicht verschiedene Siedlungsplätze. Eine Umlegung nach dem Nordufer der Schlei hat wahrscheinlich erst gegen 1050 stattgefunden. Für das Auftreten verschiedener Namen hat Ethelwerd eine einleuchtende Erklärung gegeben: Schleswig (Sliasvich) war die bei den Sachsen übliche Bezeichnung, Haithabu die von den Dänen gebrauchte. Die Mehrnamigkeit geht also offenbar auf zwei volkstumsmäßig voneinander geschiedene Siedlergruppen zurück, was sich auch im Fundmaterial ausdrückt. -- In Süderbrarup in Angeln untersuchte Fr. Tischler Kammergräber des
 

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9./10. Jh.'s, worüber er im Nachrichtenblatt f. deutsche Vorzeit 14, S. 25 ff. berichtet. Dort fanden sich als etwas Neues für Schleswig-Holstein Kriegergräber mit Pferdebestattungen in Holzkammern, die wahrscheinlich Wikingern zuzuschreiben sind. -- Auf die große Zahl und Bedeutung der Wikingerfunde im Oder- und Weichselland ist in den letzten Jahren wiederholt von der Vorgeschichtsforschung hingewiesen worden. Jänichen < 804> hat sie noch einmal zusammengestellt und geht dem Problem der Wikingerzeit in Ostdeutschland in größerem Rahmen nach. Die Untersuchung der wikingischen Ortsnamen im Weichsel- und Oderland ergibt folgendes: Es gab im genannten Gebiet einige Familien, die skandinavische Personennamen führten; ferner treten in der Nähe der Ostseeküste Ortsnamen nordischer Herkunft auf, die mit der Schiffahrt zusammenhängen, und das Vorhandensein der Waräger ist im ganzen Gebiet durch die Wareng-Orte zu erschließen. Der Einfluß der Wikinger auf die Westslawen ist auf sprachlichem, wirtschaftlichem, religiösem und technischem Gebiet (Schiffbau, Waffen) deutlich erkennbar. Das altnordische Schrifttum ist für die Kenntnis der wendischwikingischen Beziehungen wenig ergiebig, wenn auch die Jomswikingersage einiges darüber bringt. Ausführlich beschäftigt sich der Verf. mit den westslawischen Geschlechtern (polnisch-normannischen Familien, Piasten, Abodriten- und Pommern-Fürsten) und Einzelpersonen skandinavischer Herkunft; ferner wird die polnische Sage und die Wilzen-Sage auszuwerten versucht. Für die Herrscher von Polen, die Piasten, und für die Abodritenfürsten läßt sich nach dem Verf. ziemlich sicher nordische Herkunft nachweisen; für die Pommernfürsten muß nach Jänischen die Herkunftsfrage noch offen bleiben. Daß im einzelnen die Ausführungen des Verf.'s vielfach unkritisch und willkürlich sind, ist schon von Bollnow in einer Besprechung der Arbeit von Jänichen (Balt. Studien 40, S. 380) betont worden.

 

In der ma.lichen Stadtsiedlung Wollin sind die Untersuchungen durch Ausgrabung auch im Berichtsjahr fortgesetzt worden. K. A. Wilde (Das Bollwerk 9, S. 216 ff.) gibt in Form eines Rundganges durch die alte Siedlung an der Dievenow eine Übersicht über die Sachlage. Über den Stand der Grabungen vom Herbst 1937 hat O. Kunkel berichtet (Das Bollwerk 9, S. 19 ff., und Kolberg-Körliner Heimatkalender 14, S. 64 ff.). -- Zu den wichtigsten Ergebnissen der Bodenforschung in Ostpreußen gehört die Entdeckung eines Wikingerfriedhofes bei der Stadt Elbing. Denn, wie Ehrlich < 2437> in einem Vortrage auf dem Historikerkongreß in Riga mitgeteilt hat, bestätigt die Auffindung von zahlreichen Gräbern -- bis jetzt nur Frauengräbern -- mit typisch nordgermanischen Beigaben die schon lange gehegte Vermutung, daß der in einer ma.lichen Quelle genannte Ort Truso, dessen Name heute noch als Drausensee weiterlebt, ein wichtiger Handelsplatz war, an dem sich auch Wikinger niedergelassen haben. Dies muß schon im 8. Jh. geschehen sein, da die ältesten Gräber in diese Zeit zu setzen sind, jedoch ist der Wikingerfriedhof bei Elbing noch im 9. und 10. Jh. belegt worden. Weisen die älteren Gräber deutlich auf Gotland hin, so die jüngeren auf Mittelschweden; die Ablösung von Funden gotländischer Herkunft durch solche aus Mittelschweden läßt also auf eine Verschiebung in der Wikingerbewegung an der südlichen Ostsee schließen. Für die Annahme einer bedeutsamen Ansiedlung am Fuße der Elbinger Höhe und am Rande des Weichsel-Nogataltpreußische
 


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Deltas, wo sich wichtige Handelsstraßen kreuzten und eines der Haupteinfallstore nach Altpreußen hinein befand, spricht auch der Umstand, daß im Stadtgebiet von Elbing ein großes altpreußisches Gräberfeld und auch eine Siedlung liegen, ferner, daß auf dem bisher nur teilweise untersuchten altpreußischen Friedhof zahlreiche, mit vielen und reichen Beigaben ausgestattete Reitergräber gefunden worden sind. -- Die in den Vorjahren durchgeführten Ausgrabungen auf der sächsischen Stellerburg bei Heide in Holstein wurden durch Haseloff zum vorläufigen Abschluß gebracht (Nachrichtenbl. f. deutsche Vorzeit 14, S. 20 ff.). Als wichtigstes Ergebnis ist die Entdeckung eines zweiten Tores und eines durch dieses hindurchführenden, ausgezeichnet erhaltenen Bohlweges zu nennen. Ferner ergab die Flächenaufdeckung zu den bisher bekannten 7 Häusern 15 weitere Hausgrundrisse. Dank den besonderen Bodenverhältnissen sind in der Stellerburg Hausreste des 9. und 10. Jh.'s so gut erhalten, daß die Hausbauten in allen Einzelheiten rekonstruiert werden konnten, worüber M. Rudolph berichtet hat (Nachrichtenbl. f. deutsche Vorzeit 14, S. 22 ff.). Es sind zwei Gruppen von Häusern mit verschiedenem Aufbau erkennbar: reine Holzbauten (Bohlen- und Stabbauhäuser) mit Eingang an der Langseite, und Häuser in Flechtwerktechnik mit Eingang an der Giebelseite. Die beiden so gegensätzlichen Hausgruppen scheinen zwei Bauperioden und zwei verschiedenen Besiedlungen anzugehören, wodurch für die Geschichte der Stellerburg eine neue Problemstellung gegeben ist. -- Daß die Burgenforschung in Schleswig- Holstein seit 1930 sich als eine sehr wichtige Ergänzung der auf Grund der siedlungsarchäologischen Methode gewonnenen Erkenntnisse der Stammesgebiete erwiesen hat und somit für die Bevölkerungsgeschichte und politische Geschichte besonders wertvoll ist, wird von Jankuhn (Nachrichtenbl. f. deutsche Vorzeit 14, S. 28 f.) an einem Beispiel dargelegt. -- Daß die Feststellung der vor- und frühgeschichtlichen Wege von großer Bedeutung für die Geschichtsforschung ist, bedarf keiner Begründung. In Westholstein hat K. Kersten, wie er in seinem Bericht über die Denkmalspflege im genannten Gebiet mitteilt (Nachrichtenbl. f. deutsche Vorzeit 14, S. 3 ff.), den Verlauf der frühgeschichtlichen Hauptwege (Heerwege) festgestellt, die auf einer Karte zur Darstellung gebracht sind. Es ist ein östlicher und ein westlicher Hauptweg zu erkennen, die beide vorwiegend auf der Wasserscheide entlang geführt sind. Weiter ist von großer Wichtigkeit die Feststellung des Verf.'s, daß die sächsischen Wehranlagen ohne Ausnahme an solchen Stellen lagen, wo die großen Heerwege die natürliche Grenze der hohen westholsteinschen Geestlandschaft überschreiten und auf die umgebenden flachen Sandergebiete übergehen, oder an solchen Stellen, wo natürliche Wasserstraßen einen Eintritt in das Land gestatten; sie waren offensichtlich gegen drei Fronten angelegt: die nach Westen und Norden gelegenen gegen die Wikinger, die nach Osten gerichteten gegen die Slawen und die gegen Süden gewandten gegen die Franken. Daß die Anlage der frühgeschichtlichen Burgen und Landwehren und der Verlauf der Heerwege sich gegenseitig bedingen, wird durch diese Feststellungen erwiesen. Es ist damit eine neue Methode zur Erforschung der militärischen und politischen Bedeutung frügeschichtlicher Wehranlagen beschritten worden, die geeignet ist, geschichtliche Vorgänge, über die nur dürftige oder gar keine geschriebenen Berichte vorliegen, aufzuhellen.

Vandalen (Wandalen)

Stamm, dessen Kern aus Nordjütland stammt. Das Volk zog über die Weichselmündung nach Schlesien und teilte sich (21. Jahrhundert n. Chr.). Ein Teil siedelte im nördlichen Balkanraum. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. zogen die Vandalen mit anderen Stämmen über Gallien nach Spanien. 429 n. chr. setzten sie nach Nordafrika über und gründeten dort ein Reich, das 534 n. Chr. unterging.

Vandilier (Wandilier)

im 1. Jahrhundert n. Chr. eine Gruppe von östlichen Germanenstämmen. Der Name wurde anscheinend von den Vandalen übernommen.

Vanen (Wanen)

Die Wanen (anord. Vanir: "die Glänzenden") sind in der germanischen Mythologie neben den Asen eines der beiden Göttergeschlechter. Sie wohnen in Wanaheim.
Den Wanen (auch: Vanen, V wird wie W gesprochen) als Göttern des Herdfeuers, des Ackerbaus etc. werden Eigenschaften wie Fruchtbarkeit, Erdverbundenheit, Wohlstand zugeschrieben.
Nach einem mythologischen Kampf (dem Vanenkrieg) gegen die Asen mussten die Wanen den Asen den Meeresgott Njör r und dessen Kinder, die Zwillinge Freyja und Freyr, als Geisel stellen, um den Frieden zu bewahren. Im Austausch erhielten die Wanen den Asen Hoenir sowie den weisen Riesen Mimir. Historisch handelt es sich bei diesem Kampf möglicherweise um die Auseinandersetzungen zwischen zwei Völkern, aus denen die Germanen entstanden sein sollen: die Indogermanen und die Träger der Megalithkultur. Ein anderer Ansatz ist, dass der sogenannte Vanenkrieg eine frühe geistesgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen zwei Kulturidealen war: auf der einen Seite die alte bäuerlich-handfeste Göttervorstellung, auf der anderen Seite eine kultiviertere, transzendente Auffassung von den Göttern. In der Muttergöttin Freyja (= Vanin) - Frigga (= Asin) überschneiden sich die Vorstellungen anschaulich.


Vangionen (Wangionen)

suebischer Stamm, der 58 v. Chr. unter Ariovist gegen Caesar kämpfte. Später siedelte er auf dem linken Rheinufer um Worms.

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TACITUS
GERMANIA
Ursprung, Lage,
Sitten und Völker der Germanen
(Tacitus, geb.: ca. 55/56 n. 0 - gest.: ca. 120 n. 0)
Die >>Germania<< (ca. 98 n. 0 Veröffentlichung) ist eine kurze, nur 46 Kapitel umfassende Studie. Tacitus
liegt nicht daran, einen erschöpfenden Bericht über Germanien zu geben. Von der Flora und Fauna
des Landes, von Handel und Gewerbe berichtet er nichts. Es geht ihm lediglich um den germanischen
Menschen, dessen Wesen er zu verstehen sucht. Bewusst greift er dabei die Merkmale heraus, in denen
sich die Germanen von den Römern unterscheiden. Er schildert sie als urwüchsiges, unverdorbenes Naturvolk,
hebt ihre Tugenden hervor, ohne die Fehler zu verschweigen. Er ahnt, welche große Gefahr dem
römischen Reich von diesem, unseren, Volk droht. So ist seine Schrift für seine Zeitgenossen eine Mahnung
und Warnung, für uns – wegen der spärlichen Quellen, die wir über unsere Vorfahren besitzen – ein
unschätzbares Kleinod.
© Michael Brzezinski 02/2002
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Inhalt
I. Teil: Germanen im allg.: Land und Leben der Bewohner
1. Landesgrenzen Germaniens
2. Ursprung und Herkunft der Germanen
3. Erzählungen über die Anwesenheit des Hercules und Odysseus in Germanien
4. Volkstypus der Germanen
5. Bodenbeschaffenheit und Landesprodukte. Münzen
6. Bewaffnung und Heerwesen
7. Führerschaft und Kampfesweise
8. Von dem hohen Ansehen der Frau
9. Götterwelt
10. Erkundung des göttlichen Willens durch Vorzeichen und Loswerfen
11. Thing
12. Thing und Rechtspflege
13. Wehrhaftmachung und Gefolgswesen
14. Die Gefolgschaft im Kriege
15. Die Gefolgschaft im Frieden
16. Siedlungsweise und Wohnungen
17. Kleidung
18. Hochzeitsfeierlichkeiten
19. Heiligkeit der Ehe
20. Kinder und Erbrecht
21. Fehde und Gastfreundschaft
22. Vom Leben im Hause
23. Vom Essen und Trinken
24. Waffentanz und Würfelspiel
25. Die Stellung der Sklaven und Freigelassenen
26. Landwirtschaft
27. Totenbestattung
II. Teil: einzelne Stämme Germaniens
28. Nichtgermanen rechts des Rheins und links der Donau. Germanen links des Rheins
29. Rechtsrheinische Germanen im Verband des römischen Reiches. Zehntland
30. Chatten (1)
31. Chatten (2)
32. Usiper und Tenceterer
33. Bructerer, Chamaver und Angrivarier
34. Dulgubnier, Chasuarier und Friesen
35. Chauken
36. Cherusker
37. Cimbern (dabei Rückblick auf die Kämpfe zwischen Römern und Germanen)
38. Vorbemerkung über die Gesamtheit der Sueben
39. Semnonen
40. Langobarden und andere Nerthusverehrer
41. Hermunduren
42. Naristen, Marocomannen und Quaden
43. Lugier (Naharvalen, Harier) und andere Ostsueben
44. Goten, Rugier, Lemovier und Suionen
45. Das Nordmeer. Ästier (Bernstein!) und Sitonen
46. Peuciner, Wenden, Finnen und andere
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I. Teil: Germanen im allg.: Land und Leben der Bewohner
1. Landesgrenzen Germaniens
Germanien in seiner Gesamtheit wird von allen Galliern einerseits, und den Rätern und Pannoniern andererseits
durch das Rhein- und Donaugebiet geschieden, von den Sarmaten und Dakern durch die gegenseitige
Furcht der Völker voreinander und durch Gebirgszüge. Die Nordgrenze wird vom Meer gebildet, das
weite Landvorsprünge und Inselräume von riesigen Dimensionen umspült; es ist noch gar nicht lange her,
dass wir einige der dortigen Völker und ihre Könige kennen gelernt haben: der Krieg hat sie uns erschlossen.
Der Rhein entspringt auf einen unzugänglichen, steilen Gipfel der Rätischen Alpen, wendet sich in
leichter Biegung nach Westen und mündet in die Nordsee. Die Donau kommt von einem bequem zugänglichen,
sanft ansteigenden Bergrücken des Schwarzwaldes; sie nimmt ihren Lauf durch sich in sechs
Mündungsarmen ins Schwarze Meer, während sich ein siebenter in Sümpfen verliert.
2. Ursprung und Herkunft der Germanen
Die Germanen selbst möchte ich für die Urbewohner halten, deren Rassenreinheit weder durch gewaltsame
Zuwanderung noch durch gastliche Aufnahme fremder Völker beeinträchtigt worden ist; denn wer
seinen Wohnsitz wechseln wollte, tat das in alter Zeit nicht zu Lande, sondern auf dem Seeweg. Nur selten
aber wagt sich aus unserem Mittelmeer ein Schiff in jenes unermessliche im Norden Germaniens sich
ausdehnende Meer, das sozusagen schon einer anderen Welt angehört. Ferner, ganz abgesehen von den
Gefahren in diesem schaurigen und unbekannten Meer, wer hätte sich denn überhaupt entschließen sollen,
unsere blühenden Provinzen in Kleinasien oder Nordafrika oder gar Italien selbst zu verlassen und nach
Germanien auszuwandern? Nach jenem Teil der Erde, der so völlig bar ist aller landschaftlichen Reize, so
rauh im Klima, trostlos zum Leben und trostlos zum Anschaun für jeden, dem es nicht gerade die Heimat
ist!
In alten Liedern, der einzigen Art geschichtlicher Überlieferung, die es dort gibt feiern die Germanen
einen erdentsprossenen Gott Tuisto. Ihm schreiben sie einen Sohn Mannus zu, den sie als den
Stammvater und Begründer ihres Volkes preisen. Dieser soll drei Söhne gehabt haben, nach deren Namen
die an der Nordsee wohnenden Germanen Ingävonen, die im Binnenlande Herminonen, die Anwohner
des Rheines Istävonen genannt würden.
Manche Schriftsteller – kein Wunder bei dem Spielraum, den die Urzeit gestattet – wollen von
noch mehr Söhnen des Mannus und von noch mehr Stammesnamen wissen: so seien Marser, Gambrivier,
Sueben und Wandilier ganz alte und echte Namen.
Dagegen sei die Bezeichnung Germanien* neu und erst vor kurzem in Gebrauch gekommen. Anfänglich
hätte nur der Stamm, der als erster über den Rhein ging und die Gallier aus ihrer Heimat vertrieb
(heute heißen sie Tungern), den Namen Germanen gehabt. Nachher habe sich der Stammesname auch für
alle anderen Stämme durchgesetzt, und zwar auf folgende Art: Zuerst sei der siegreiche Stamm selbst, um
den Galliern Furcht einzujagen, auf den Gedanken gekommen, alle Stämme rechts des Rheines Germanen
zu nennen; nachdem nun der Stammesname erst mal als Gesamtname aufgekommen war, hätten die
Stämme bald auch von sich aus diese Bezeichnung angenommen.
*Danach wurde das Word „Germanien“ aus einem ursprünglichen Stammesnamen in Laufe der Zeit zum Namen des Gesamtvolkes,
während es als Stammesbezeichnung außer Gebrauch kam. – Der Name „Germane“ (nicht „Ger-mann“) ist wahrscheinlich
keltischen Ursprungs. Seine Bedeutung ist ungeklärt.
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3. Erzählungen über die Anwesenheit des Hercules und Odysseus in Germanien
Wie es heißt, ist außer anderen auch Hercules in Germanien gewesen; in der Tat singen die Germanen,
wenn sie zur Schlacht ausziehen, von ihm als den ersten aller Helden. Um sich mehr Mut zu machen, haben
sie auch noch eine andere Art von Heldengesängen; aus deren Klang, Barditus genannt, prophezeien
sie den Ausgang des bevorstehenden Kampfes. Je nachdem nämlich der Gesang durch ihre Reihen
schallt, glauben sie an Sieg oder Niederlage; und dieser Gesang ist ihnen sozusagen mehr ein Gleichklang
tapferer Herzen als ein Zusammenklingen von Menschenstimmen. Vor allen ist es ihnen zu tun, rauhe
Töne und ein stoßweises Dröhnen hervorzubringen; zu diesem Zweck halten sie den Schild vor dem
Mund, um so die Stimme durch den Widerhall voller und tiefer anschwellen zu lassen.
Nach Ansicht mancher ist übrigens auch Odysseus auf seiner langen, sagenumwobenen Irrfahrt in
die Nordsee verschlagen worden und hat dort germanischen Boden betreten; das am Rhein gelegene noch
heut bewohnte Asciburgium soll er gegründet und ihm auch dem Namen gegeben haben. Ja, es soll dort
vor langer Zeit sogar ein Altar entdeckt worden sein, den Odysseus gestiftet und auch den Namen seines
Vaters Laërtes versehen habe.
Im Grenzgebiet Germaniens und Rätiens soll es noch bis auf den heutigen Tag Grabdenkmäler
geben, die Inschriften in griechischer Schrift aufweisen.
Solche Behauptungen will ich weder als richtig anerkennen noch als falsch abtun; ein jeder mag
davon ablehnen oder glauben, was er will.
4. Volkstypus der Germanen
Persönlich trete ich der Ansicht jener bei, die glauben, dass die Germanen ihr Blut nicht durch Heiraten
mit Fremden befleckt haben, sondern eine eigenartige und rassenreine Volkseinheit geblieben sind, die
sich von jedem anderen Volk unterscheidet. So haben sie denn auch trotz ihrer großen Volkszahl alle das
gleiche Aussehen: die blauen Augen mit dem trotzigen Blick, das rötlichblonde Haar und die hochgewachsenen
Körper, die allerdings nur im Angriff besonders stark sind. Bei mühseliger Arbeit legen sie
viel weniger Ausdauer an den Tag; Durst und Hitze vertragen sie schon gar nicht. Dagegen sind sie bei
dem rauhen Klima und der Kärglichkeit des Bodens an Kälte und Hunger gewöhnt.
5. Bodenbeschaffenheit und Landesprodukte. Münzen
Das Land weist zwar im einzelnen beträchtliche Unterschiede auf; in der Gesamtheit aber wirkt es durch
seine Wälder unheimlich, durch die Sümpfe abstoßend. Für den Westen, nach Gallien hin sind die Niederschläge
charakteristisch, für den Südosten, nach Norikum und Pannonien hin, Stürme und die dadurch
bedingte größere Trockenheit.
Getreide gedeiht gut, dagegen eignet sich der Boden nicht für Edelobst. Vieh läuft viel herum,
doch ist es meistens unansehnlich; selbst an den Rindern vermisst man den stattlichen Wuchs und das
mächtige Gehörn. Denn nicht an den Aussehen der Tiere haben die Germanen ihre Freude, sondern nur
an der Menge: Viehreichtum ist ihr einziger und liebster Besitz.
Silber und Gold haben ihnen die Götter vorenthalten – soll man sagen: in gnädiger Gesinnung
oder im Zorn? Doch will ich damit nicht behaupten, dass es in Germanien überhaupt keine Gold- oder
Silberadern gibt; denn wer hat je danach gesucht? Aus dem Besitz und Gebrauch dieser Metalle machen
sich die Germanen nicht gerade viel. Man kann die Beobachtung machen, dass ihnen silberne Gefäße, die
ihre Gesandten und Fürsten als Geschenk erhielten, nicht mehr gelten als solche aus Ton. Die Grenznachbarn
allerdings wissen wegen des regelmäßigen Handelsverkehrs mit uns Gold und Silber mehr zu schätzen.
Sie kennen einige unserer Geldsorten und nehmen bestimmte davon mit Vorliebe an. Im Innern
des Landes hängt man noch an dem einfacheren und seit alters gebräuchlichen Tauschhandel. Von unseren
Münzen bevorzugen die Germanen die alten, die ihnen schon seit langen bekannt: die mit gezackten
Rand oder die mit der Victoria (Siegesgöttin) auf dem Zweigespann. Silber ist ihnen lieber als Gold, aber
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nicht aus irgendeiner Liebhaberei, sondern einfach deshalb, weil die größere Zahl der Silberstücke für
Leute, die nur alltägliche billige Dinge kaufen, im Zahlungsverkehr praktischer ist.
6. Bewaffnung und Heerwesen
Selbst Eisen haben die Germanen kaum in ausreichender Menge, wie man aus Art ihrer Waffen ersehen
kann. Nur wenige besitzen ein Schwert oder einen größeren Spieß mit langer, breiter Eisenspitze. In der
Regel tragen sie Speere, in ihrer Sprache Framen genannt, mit einer nur kurzen und schmalen, dabei aber
doch scharfen Eisenspitze; diese Waffe ist so handlich, dass man sie je nach Bedarf zum Stoß wie zum
Wurf verwenden kann. Die Reiterei führt nur Schild und Frame. Das Fußvolk benutzt außerdem auch
ganz leichte Wurfgeschosse, und zwar hat jeder Mann mehrere; damit kann man ungeheuer weit schleudern.
Die Germanen tragen höchstens einen leichten Umhang, der sie wenig behindert. Jegliches Prunken
mit Waffenschmuck liegt ihnen fern; nur ihre Schilde bemalen sie mit grellen Farben. Ganz wenige haben
einen Panzer, kaum der eine oder der andere einen Metall- oder Lederhelm.
Ihre Pferde zeichnen sich weder durch Schönheit noch durch Schnelligkeit aus, Sie werden auch
nicht wie bei uns dazu abgerichtet, Schwenkungen mannigfacher Art zu machen – die germanische Reiterei
reitet entweder geradeaus oder mit einer einzigen Schwenkung nach rechts – und zwar in so geschlossener
Kreisbewegung, dass niemand zurückbleibt.
Im ganzen gesehen liegt die Hauptstärke der Germanen bei dem Fußvolk; deshalb kämpfen die
beiden Waffengattungen auch in gemischten Verbänden, wobei sich die Fußtruppen infolge ihrer Behendigkeit
den raschen Bewegungen des Reiterkampfes anpassen und zwischen den Reitern einhertraben. Zu
diesem Zweck werden die schnellsten jungen Leute herausgezogen und vor die Hauptkampflinie gestellt,
dorthin, wo die Reiterei ihren Platz hat. Ihre Zahl ist genau festgelegt: Aus jedem Gau sind es hundert,
und danach heißt eine solche Abteilung bei ihnen Hundertschaft. Und was ursprünglich eine bloße Zahlenangabe
war, ist jetzt die offizielle Benennung und ein Ehrentitel.
Zur Schlacht ordnet sich das Heer in keilförmigen Abteilungen. Vom Platze zu weichen, sofern
man nur wieder vorstößt, wird nicht als Angst ausgelegt, sondern als Zeichen kluger Berechnung gewertet.
Ihre Verwundeten und Toten suchen sie auch bei ungünstiger Gefechtslage zu bergen. Der Verlust des
Schildes gilt als eine ganz besonders große Schmach: Der also Gebrandmarkte darf weder an einer religiösen
Feier noch am Thing teilnehmen. Daum hat schon gar mancher, der heil aus dem Kriege zurückgekommen
war, den Strick genommen, um seiner Schande ein Ende zu machen.
7. Führerschaft und Kampfesweise
Für die Wahl von Königen ist adelige Abstammung, für die von Heerführern (Herzögen) die Mannhaftigkeit
des einzelnen ausschlaggebend. Die Könige haben keine unumschränkte oder willkürliche Gewalt,
und auch die Heerführer leiten mehr durch ihr Beispiel als auf Grund ihrer Befehlsgewalt – durch nie erlahmende
Tatbereitschaft, durch überragendes Heldentum und Kampf in vorderster Linie erwecken sie
Bewunderung für sich und verschaffen sich dadurch Gehorsam. Im übrigen ist es ihnen nicht erlaubt, jemanden
hinrichten, in Fesseln legen oder auspeitschen zu lassen; dieses Recht steht nur den Priestern* zu.
Aber auch die Priester tun das nicht, um von sich aus oder auf Befehl des Heerführers eine Strafe zu vollziehen,
sondern sozusagen auf Geheiß des Gottes, der nach ihrem Glauben den Kämpfern zur Seite steht.
Gewisse Tierbilder** und Wahrzeichen*** ihrer Götter holen sie aus den heiligen Hainen und
nehmen sie mit in den Kampf. Was sie am allermeisten zur Tapferkeit anfeuert, ist der Brauch, dass die
Aufstellung der Reiter- und Fußabteilungen nicht dem Zufall überlassen oder ins Belieben gestellt ist,
sondern nach Familien und Sippen erfolgt. Zudem befinden sich ganz in der Nähe ihre Lieben, so dass sie
die Klageschreie ihrer Frauen und das Wimmern der Kinder hören können. Diese nächsten Angehörigen
sind für jeden Kämpfer die heiligsten Zeugen seiner Taten; von ihnen ein Lob zu erhalten, ist ein jeden
größter Stolz. Wer verwundet ist, begibt sich zu seiner Mutter oder Gattin. Diese stellen ohne Scheu die
Anzahl der Verletzungen fest und untersuchen sie; auch bringen sie den Kämpfenden Erfrischungen und
Zuspruch.
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*Wenn auch die Strafgewalt im Kriege dem Heerführer zustand, so lag doch der Strafvollzug bei den Priestern; hierdurch
sollte etwaige Sippenrache von vornherein ausgeschaltet werden. Also eine Art Teilung der bürgerlichen und militärischen
Gewalt.
**Etwa: Schlange und Wolf Wodins, Bär und Bock Donars, Widder Zius.
***Für Wodin war der Speer, Für Donar der Hammer, für Ziu das Schwert charakteristisch.
8. Von dem hohen Ansehen der Frau
Wie überliefert wird, haben die Frauen schon manches wankende oder gar zurückflutende Heer wieder
zum Stehen gebracht durch inständiges Bitten und dadurch, dass sie sich ihren Männern mit entblößter
Brust entgegenwarfen und auf die unmittelbar drohende Gefangenschaft hinwiesen. Diese fürchten die
Germanen weit weniger für ihre eigene Person als für ihre Frauen; deren Gefangenschaft dünkt ihnen so
unerträglich, dass ein Volksstamm, der unter den ihm auferlegten Geiseln auch Mädchen aus vornehmen
Familien stellen muss, sich besonders stark verpflichtet fühlt.
Ja, die Germanen erblicken in den Frauen so etwas wie heilige Wesen mit Sehergabe*; daher beachten
sie deren Ratschläge und richten sich nach ihren Weissagungen. Haben wir es doch selbst erlebt,
wie während der Regierung des verewigten Kaisers Vespasian die Seherin Veleda lange Zeit fast überall
in Germanien Verehrung genoss wie ein höheres Wesen. Ebenso hat man einstens der Aurinia und manch
anderen Frauen derartige Verehrung erwiesen, ohne dass man ihnen etwa in niedriger Unterwürfigkeit
geschmeichelt oder gar Göttinen aus ihnen gemacht hätte.
*Die zartere, sensiblere Frau erschien der göttlichen Eingebung leichter zugänglich als der Mann. – Andererseits aber hatte die
Frau schwere körperliche Arbeit zu Hause wie auf dem Felde zu verrichten und war dem Manne gegenüber minderen Rechts.
9. Götterwelt
Wodan/Wodin (Mercur) Donar/Thor (Hercules) Ziu/Tyr (Mars)
Unter den Göttern* genießt die höchste Verehrung Mercur (Wodin); ihm an bestimmten Festtagen auch
Menschenopfer** darzubringen, sehen die Germanen als ein gottgefälliges Werk an. Den Hercules (Donar)
und Mars (Ziu) suchen sie sich durch Opferung der hierfür üblichen Tierarten gnädig zu stimmen.
Ein Teil der Sueben opfert auch der Isis. Über Veranlassung und Ursprung dieses Fremden Kultes
habe ich nichts Sicheres in Erfahrung bringen können. Doch lässt sich schon aus der Tatsache, dass das
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Symbol der Göttin wie ein kleiner dalmatischer Schnellsegler aussieht, erschließen, dass der Kult auf dem
Seewege eingeführt worden ist.
Im übrigen verträgt es sich nach germanischer Anschauung nicht mit der Hoheit des Himmlischen,
die Götter in Tempelbauten*** einzuengen oder menschenähnliche Bilder**** von ihnen zu machen. Sie
weihen ihnen Wälder und Haine und rufen jenes geheimnisvolle Wesen, das man nur dann schauen zu
können meint, wenn man in ehrfurchtvoller Andacht versunken ist, mit göttlichen Namen an.
*Um dem römischen Leser das Verständnis zu erleichtern, wurden die germanischen Götternamen gern durch solche römische
ersetzt, die dem germanischen Gott am meisten zu entsprechen schienen. Für diese Namensgebung waren äußere Ähnlichkeiten
oft mehr entscheidend als Wesensgleichheit.
**Geopfert wurden Menschen, die nicht zu Volksgemeinschaft gehörten, z.B. Kriegsgefangene oder Sklaven. Auch die an
einem Verbrecher vollzogene Todesstrafe galt als ein Opfer, da durch das begangene Verbrechen in erster Linie die Gottheit
selbst beleidigt worden war.
***Tempel (d. h. Bauten für die Kulthandlung sind bis in die Taciteische Zeit hinein nicht nachgewiesen, sondern nur eingehegte
Plätze, Altäre und Hügel, andererseits Priesterwohnungen und Aufbewahrungsräume für die Heiligtümer (z.B. für den
Prozessionswagen).
****Eigentliche Götterbilder in Menschengestalt dürften erst durch die Römer zu den Germanen gekommen sein.
10. Erkundung des göttlichen Willens durch Vorzeichen und Loswerfen
Vorzeichen und Entscheidungen durchs Los messen die Germanen so hohen Wert bei wie nur wenige
Völker. Das beim Losen übliche Verfahren ist einfach: Von einem fruchttragenden Baum* schneiden sie
einen Zweig ab und zerteilen ihn in Stäbchen (Runenstäbchen). Diese machen sie durch Einritzen bestimmter
Zeichen (Runen) kenntlich und streuen sie dann aufs Geradewohl, wie es der Zufall fügt, über
ein weißen Linnen (Leinentuch?). Dann ruft bei Erkundung des göttlichen Willens in öffentlicher Angelegenheit
der Priester, bei Befragung in Privatsachen der Hausherr die Götter an, hebt, den Blick gen
Himmel gerichtet, dreimal** nacheinander je ein Stäbchen empor und gibt auf Grund der vorher eingeritzten
Zeichen eine Deutung. Ist diese ungünstig, findet in der gleichen Sache am selben Tage keine weitere
Befragung mehr statt; fällt sie günstig aus, so sucht man außerdem noch durch Vorzeichen eine Bestätigung
zu erlangen.
Der Brauch, Ruf und Flug der Vögel zu beobachten und zu deuten, herrscht bei den Germanen
genauso wie bei uns.
Eine germanische Sitte dagegen ist es, aus den Vorausahnungen und deren Gebaren heiliger Pferde
etwas erkunden zu wollen. Diese Pferde, Schimmel, werden von Staats wegen in denselben Hainen
und Wälder gehalten, in denen die Götter verehrt werden, und dürfen durch Arbeit im Dienste der Menschen
nicht entweiht werden. Sie werden nur vor den heiligen Wagen gespannt***; der Priester und der
König oder Gaufürst gehen dann nebenher, lenken die Rosse und beobachten ihr Wiehern und Schnauben.
Diesem Vorzeichen schenkt man mehr Glauben als allen anderen, und zwar nicht nur beim einfachen
Volk, sondern auch in den höheren Schichten und bei den Priestern. Die Priester halten sich selbst nur für
Diener der Götter; in den Pferden dagegen sehen sie Geschöpfe, die in das Wissen der Götter eingeweiht
sind.
Um den Ausgang schwerer Kriege zu erforschen, haben die Germanen auch noch eine andere Art
von Vorzeichen: Sie trachten danach, einen Mann aus dem feindlichen Lager irgendwie in ihre Hände zu
bekommen, und lassen ihn dann mit einem ausgesuchten Streiter aus ihren eigenen Reihen kämpfen, jeden
in den Waffen seiner Heimat. Den Sieg des einen oder des anderen betrachten sie dann als bedeutungsvoll
für den Ausgang des ganzen Krieges!
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f u th a r k g w h n i j ei p z s t b e m l ng d o
24 23 22 21 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
(rechtsläufig = FUTHARK-Runen) à
( ß linksläufig = OD(i)NG-Runen)
Während jahrelanger Runen-Forschungsarbeit gelang es Gerhard Heß, durch die entschlüsselte urgermanische Runenaussage
des über 2000jährigen ODING-Kanons, die Eckpfeiler des spirituellen Wissens abend- und morgendländischer Glaubenssyteme
wiederzugewinnen. Erstaunliche Übereinstimmungen zwischen Veda, Avesta, Edda, ägyptischen Pyramidentexten und
hermetischen Zauberpapyri werden sichtbar.
Folgende thematische Schwerpunkte setzt der ODING-KANNON:
Numerologie - die urkräftige Bedeutung der Zahlen und ihre Beziehung zu den 24 Runenmythen.
Der luni-solare altgermanische Kalender - die Einteilung des Jahres in 24 Mondphasen, die mit den 24 Runen korrespondieren.
Nachzulesen in dem leider vergriffenen Buch: >>ODING-WIZZOD<< - Gottesgesetz und Botschaft der Runen, Gerhard Heß,
Knaur Verlag 1993, ISBN 3-426-86034-1.
*Der Baum musste fruchttragend sein, weil ein solcher Baum als Sinnbild des Segens galt; doch brauchten seine Früchte nicht
essbar zu sein. Bevorzugt wurde wohl die Buche, vgl. „Buch-stabe“; die Losstäbchen wurden zusammengelesen.
**Die Dreizahl galt schon im Altertum als bedeutungsvoll; vgl. die drei Hauptgötter (Kap. 9). – Bei dieser Gelegenheit sei
auch auf die Einteilung des Jahres in drei Jahreszeiten (Kap. 26) hingewiesen, ebenso auf die Dreiteilung der Landwirtschaft in
Ackerbau, Gartenbau und Viehzucht (Kap. 5).
***Offenbar bei den regelmäßig wiederkehrenden, feierlichen Umfahrten des Gottes. Man darf annehmen, dass in ähnlicher
Weise auch die Kühe der Nerthus (Kap. 40) beobachtet wurden.
11. Thing
Über minder Wichtige Dinge entscheiden die Edelinge, über wichtige die Gesamtheit der Freien; doch
werden auch solche Dinge, deren Entscheidung dem ganzen Volk vorbehalten ist, von den Edelingen
vorher durchberaten. Abgesehen von unvorhergesehenen eiligen Fällen treten die Germanen in bestimmten
Fristen bei Neumond oder Vollmond zum Thing* zusammen; denn diese Tage sehen sie als besonders
glückbringend für die Eröffnungen von Beratungen an. Sie rechnen nicht, wie wir, nach Tagen, sondern
nach Nächten. Nach Nächten** setzten sie die Termine für Versammlungen und Verabredungen fest;
denn nach ihrer Auffassung geht die Nacht dem Tage voran. Ihr ausgeprägter Freiheitsdrang hat den
Nachteil, dass sie nicht alle gleichzeitig und nicht auf einen Befehl hin zum Thing eintreffen, sondern
durch die Saumseligkeit der Ankommenden gehen zwei bis drei Tage verloren***.
Sobald die Erschienenen es für gut befinden, setzten sie sich zur Beratung zusammen, und zwar
alle in Waffen. Stillschweigen gebieten die Priester, denen nun das Recht zusteht, gegen Unbotmäßige
mit Strafen einzuschreiten. Dann hört man sich den König oder irgendeinen Edeling an, der nach Alter,
Adel, Kriegsruhm und Redegabe berufen erscheint, das Wort zu ergreifen; dieser hat mehr einen gewichtigen
Rat zu erteilen als die Befugnis, etwas anzuordnen. Missfällt der Vorschlag, dann wird er von der
Versammlung mit lauten Murren zurückgewiesen. Findet er Beifall, so schlägt man mit den Speeren aneinander;
und diese Form des Beipflichtens gilt bei ihnen als die ehrenvollste Art der Zustimmung.
*Bei den Versammlungen unterschied man zwischen dem ungebotenen (ordentlichen) Thing, zu dem nicht besonders viel
aufgeboten wurde, und dem gebotenen (außerordentlichen) Thing; ferner zwischen dem großen und den kleinen Thing.
**Das Zählen nach Nächten war eine Folge der einfacheren und darum ursprünglicheren Zeitrechnung nach dem Mondwechsel;
vgl. Überreste davon in Ausdrücken wie „Fastnacht“ und „Weihnacht“.
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***Bei den weiten Entfernungen dürfte die gerügte Unpünktlichkeit mindestens teilweise auf die Unpassierbarkeit der Wege
infolge plötzlicher Überschwemmungen und andere widrige Umstände zurückzuführen sein. Umgekehrt mochten manche
Teilnehmer vorzeitig eintreffen, um Privatangelegenheiten (z.B. Eheverlöbnisse) zu besprechen.
12. Thing und Rechtspflege
Im Thing darf man auch Klage erheben und Prozesse anstrengen, bei denen es um Leben und Tod geht.
Die Strafen richten sich nach Art des Vergehens. Verräter und Überläufer hängt man an dürren Bäumen
auf. Feiglinge, Fahnenflüchtige und solche, die ihren Leib durch widernatürliche Unzucht geschändet
haben, versenkt man in einem Moor* oder Sumpf und überdeckt sie noch mit Gestrüpp. Diese verschiedene
Art der Todesstrafe hat angeblich den Sinn, dass man Verbrecher zum abschreckenden Beispiel öffentlich
brandmarken, Lasterhaftigkeit aber den Blicken der Allgemeinheit entziehen will. Auch bei leichteren
Vergehen ist das Strafmaß je nach der Art des Falles abgestuft. Der schuldig Gesprochene hat eine
bestimmte Anzahl von Pferden und Rindern als Buße zu entrichten. Davon fällt ein Teil an den König
oder an die Gemeinde, der andere an den Geschädigten oder seine Sippe.
In diesem Landesthing werden auch die Gaufürsten gewählt, die im Bereich ihres Gaues Recht
sprechen. Jedem von ihnen stehen hundert Beisitzer** aus den Gemeinfreien des Gaues als beratende und
beschließende Körperschaft zur Seite.
*Die in den Mooren Norddeutschlands und Dänemarks gefundenen Moorleichen sind höchstwahrscheinlich Opfer dieser Justiz.
Die Überdeckung mit Flechtwerk, Steinen usw. sollte wohl die Rückkehr des Gerichteten als Gespenst verhindern.
**Es handelt sich hier nicht um besonders gewählte Schöffen, sondern um die Häupter der ungefähr 100 Familien, die ursprünglich
einen aus mehreren Dörfern bestehenden Siedlungsverband (Gau) ausmachten.
13. Wehrhaftmachung und Gefolgswesen
Alle Angelegenheiten öffentlicher wie privater Art erledigen die Germanen nur im Waffenschmuck. Doch
darf nach ihrer Sitte keiner die Waffen eher anlegen, als bis ihn die Gemeinde als wehrfähig anerkannt
hat. In feierlicher Weise überreicht dann im Thing selbst einer der Edelinge oder der Vater oder auch einer
der Sippengenossen dem Jungmann die Waffen: Schild und Frame. Das bedeutet bei ihnen dasselbe
wie bei uns Römern die Anlegung der Mannestoga: es ist der erste Ehrenschmuck des jungen Mannes.
Bisher galt er als ein Glied der Familie, nunmehr gehört er dem Staat.
Hoher Adel oder außergewöhnliche Verdienste der Väter sichern auch schon ganz jungen Leuten
die Rangstellung eines Gefolgsherrn; sie werden in den Kreis der anderen älteren und schon kampferprobten
Gefolgsherren aufgenommen. Es ist aber auch keine Schande für sie, Gefolgsmann eines anderen
zu werden. Jeder Gefolgsherr setzt ja auch nach seinem Ermessen Rangunterschiede für seine Gefolgsleute
fest; unter diesen herrscht daher ein großer Wetteifer, da jeder bei seinem Führer der erste sein will.
Nicht minderstark wetteifern die Gefolgsherren ihrerseits untereinander; denn jeder will die meisten
und feurigsten Gefolgsleute haben. Seine Würde und Macht sieht der Gefolgsherr darin, stets der Mittelpunkt
einer zahlreichen und heldenhaften Gefolgschaft zu sein: das ist im Frieden sein Stolz, im Kriege
sein Schutz. Wenn ein Gefolgsherr durch die Zahl und Tapferkeit seines Gefolges auffällt, verschafft ihm
das nicht nur bei seinem eigenen Volk, sondern darüber hinaus bei den Nachbarstaaten einen Namen und
Ruhm. Solche Gefolgsherren werden auch von Gesandtschaften umworben und durch Geschenke geehrt;
und oft genug hat schon ihr bloßer Name genügt, einen Krieg zu verhüten.
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14. Die Gefolgschaft im Kriege
Kommt es zur Schlacht, so ist es für den Gefolgsherrn eine Schande, sich an Tapferkeit übertreffen zu
lassen, doch ebenso für die Gefolgschaft, es dem Führer an Tapferkeit nicht gleichzutun. Vollends aber
lädt Schimpf und Schande fürs ganze Leben auf sich, wer ohne seinen Gefolgsherrn aus der Schlacht zurückkommt.
Ihn zu schützen, ihn zu schirmen, selbst die eigenen Heldentaten seinem Ruhm zuzurechnen:
darin gipfelt der Treueid* der Mannen. Der Gefolgsherr kämpft um den Sieg, die Mannen für ihren Herrn.
Droht einem Stamm in langer Friedensruhe Verweichlichung, so suchen viele dieser jungen Edelinge
auf eigene Faust solche Stämme auf, die gerade in irgendeinen Krieg verwickelt sind. Denn ein
tatenloses Leben ist den Germanen nun einmal verhasst. Auch kommt man in Kampf und Gefahr leichter
zu Ruhm. Zudem lässt sich eine zahlreiche Gefolgschaft auf die Dauer auch nur durch Krieg und
Raubzüge zusammenhalten. Denn neben der gewöhnlichen Verpflegung und den zwar einfachen, aber
sehr reichlichen Gastereien, die an die Stelle einer Soldzahlung treten, erwarten die Gefolgsleute von der
Freigiebigkeit ihres Gefolgsherrn jenes Streitross und jene Frame, mit der sie den blutigen Sieg zu
erkämpfen gedenken. Die Mittel für solche Freigebigkeit werden durch Kriegs- und Raubzüge
aufgebracht. Man kann einen Gefolgsmann leichter dazu bringen, einen Feind zum Kampf
herauszufordern und sich Verwundungen zu holen als daheim den Acker zu bestellen und den Ertrag der
Ernte abzuwarten. Ja, für faul und feige gilt, wer mit seinem Schweiß erwirbt, was er durch Blut gewinn
en kann.
*Die Treue war die sittliche Macht, die den Herrn und die Gefolgschaft zu einer Einheit zusammenschmiedete (vgl. die Treue
als das Kernmotiv der deutschen Heldensagen).
15. Die Gefolgschaft im Frieden
Gibt es keinen Krieg, dann gehen sie wohl mitunter auf die Jagd; noch lieber aber verbringen sie den ganzen
Tag mit nichts anderem als mit Schlafen und Essen. Gerade die tapfersten Kriegshelden betätigen
sich am allerwenigsten. Sie überlassen die Sorge für Haus und Hof sowie die Feldarbeit den Frauen, den
alten Leuten und überhaupt den körperlich schwächeren Mitgliedern der Familie; sie selbst leben in
dumpfer Untätigkeit dahin. Ein merkwürdiger Widerspruch liegt in ihrem Wesen: sie lieben den Müßiggang
und können doch die Ruhe des Friedens nicht ertragen*.
Es ist Landessitte, dass jeder einzelne für sich als freiwillige Leistung den Fürsten (bzw. Gefolgsherrn)
von seinem Vieh oder Ernteertrag etwas abgibt. Eine solche Zuwendung wird als Ehrengabe angenommen,
erleichtert aber zugleich auch die Bestreitung der notwendigen Ausgaben. Besonders große
Freude herrscht über Geschenke aus Nachbarländern; sie werden nicht nur von Einzelpersonen, sondern
auch von Staats** wegen dargebracht und bestehen aus erstklassigen Pferden, prachtvollen Waffenstücken,
Brustschmuck und Halsketten. Manche haben wir auch schon soweit gebracht, dass sie Geld annehmen.
*Das bezieht sich offensichtlich nicht auf die Gesamtheit der Freien, sondern nur auf den Gefolgsherren und seine Mannen. Im
übrigen merkt man an der Art und Ausführlichkeit der ganzen Schilderung, welch tiefen Eindruck die germanische Gefolgschaft
auf den Römer Tacitus gemacht hat.
**Durch solche Geschenke wollte man sich der Gunst des betr. Fürsten (Gefolgsherrn) versichern oder sich von etwa geplanten
Raubzügen loskaufen.
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16. Siedlungsweise und Wohnungen
Wie zur Genüge bekannt, wohnen die germanischen Völker nicht in Städten; auch von sonstigen geschlossenen
Siedlungen wollen sie nichts wissen. Ihre Dörfer legen sie nicht so wie wir an, d. h. als Reihenhäuser,
die unmittelbar aneinander grenzen, sondern siedeln weit voneinander entfernt und ohne planvolle
Straßenordnung, wie gerade Quelle, ein Feld oder ein Weideplatz sie lockt. Jeder lässt rings um sein
Haus einen freien Raum, vielleicht als Sicherung gegen Feuergefahr, vielleicht auch, weil man nicht besser
zu bauen versteht. Als Baumaterial verwenden die Germanen nicht Steine oder Ziegel, sondern überall
nur roh behauenes Holz, ohne auf ein gefälliges Äußere irgendwie Rücksicht zu nehmen. Einzelne Stellen
der Außenwände bestreichen sie ziemlich sorgfältig mit einer so hellglänzenden Erdmasse, dass man den
Eindruck von Malerei und farbiger Linienführung hat.
Auch pflegen sie Höhlen in die Erde zu graben und häufen eine starke Schicht Dünger darüber;
diese Höhlen dienen ihnen als Zufluchtsstätte in der Winterkälte (Wohngruben) und als Aufbewahrungsräume
für die Feldfrüchte (Mieten); denn in solchen Räumen macht sich die Strenge des Frostes minder
fühlbar. Bricht aber einmal der Feind ein, verwüstet er nur, was offen daliegt. Was aber versteckt und
vergraben ist, bemerkt er entweder gar nicht oder lässt es sich schon deshalb entgehen, weil er erst danach
suchen müsste.
17. Kleidung
Zur Kleidung dient allgemein ein Umhang*, der durch eine Spange oder, wenn eine solche etwa fehlt,
durch einen Dorn zusammengehalten wird. Im übrigen unbedeckt, verbringen sie so ganze Tage am Herdfeuer.
Die Wohlhabenden tragen außerdem noch Unterkleidung**; diese ist aber nicht so herabwallend
wie bei den Sarmaten und Parthern, sondern liegt eng an und lässt die einzelnen Körperformen hervortreten.
Auch Pelze werden getragen; auf deren Auswahl verwenden die an unseren Grenzen wohnenden
Germanen nur wenig Sorgfalt, weit mehr die tiefer im Innern des Landes lebenden; denn dort kennt man
bei dem Fehlen von Handelsverkehr keinen anderen Putz. Sie geben den Fellen bestimmter Tierarten den
Vorzug und verarbeiten sie mit andersfarbigen Pelzstückchen solcher Tiere, die weit von der Nordsee her
oder dem noch unerschlossenen Ozean*** (Nordmeer) stammen.
Bei den Frauen**** ist die Art, sich zu kleiden, im allgemeinen die gleiche wie bei den Männern;
nur hüllen sie sich ziemlich häufig auch oben nicht in Ärmel aus, sondern Unter- und Oberarm bleiben
frei, ebenso der obere Teil der Brust.
*Dieser konnte ein Pelz oder ein Woll- bzw. Leinenmantel sein.
**Die Unterkleidung bestand aus Leibrock und enganliegender Hose; in der kälteren Jahreszeit wurde sie wohl allgemein
getragen. Übrigens erwähnt Tacitus nicht alle Teile der Kleidung (z. B. die Schuhe).
***Die erste Erwähnung des nordischen Pelzhandels.
****Auf den Denkmälern erschienen die Frauen häufiger in langen Gewändern. Ein grundlegender Unterschied zwischen
männlicher und weiblicher Tracht hat es aber bis ins Mittelalter hinein nicht bestanden.
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18. Hochzeitsfeierlichkeiten
Trotzdem wird dort die Heiligkeit der Ehe strengstens gewahrt, und gerade in diesem Punkte ihrer Sitten
verdienen die Germanen allerhöchsten Lob. Denn unter allen Fremdvölkern sind sie nahezu die einzigen,
die sich mit nur einer Frau begnügen. In den äußerst seltenen Ausnahmefällen ist das Motiv nicht Befriedigung
der Sinnenlust, sondern es handelt sich dabei um Männer, die ihrer hohen Stellung wegen von den
verschiedensten Seiten mit Heiratsanträgen umworben werden.
Die Mitgift bringt nicht die Frau dem Manne, sondern umgekehrt der Mann seiner Frau. Eltern
und Verwandte sind dabei zugegen und begutachten die Brautgeschenke* Unter diesen Brautgeschenken
ist aber nichts, woran die Neuvermählte ihre Eitelkeit befriedigen oder womit sie sich schmücken könnte:
Rinder sind es und ein gezäumtes Ross, ferner Schild, Frame, Schwert. Auf diese Gaben hin erhält der
Bräutigam die Braut; und auch sie schenkt nun ihrerseits dem Mann irgendein Waffenstück. In solchem
Gabenaustausch erblicken die Germanen das stärkste Band, das sichtbare Zeichen einer geheimnisvollen
Weihe und des Segens der Himmlischen für den neuen Ehebund. Die junge Frau soll gleich durch das
Hochzeitszeremoniell daran gemahnt werden, dass die mannhaften Taten ihres Gatten, dass Kriege und
Schlachten auch in ihr Dasein eingreifen. Sie soll schon jetzt wissen, dass sie die Gefährtin ihres Mannes
in Not und Gefahr ist und im Krieg wie im Frieden dasselbe zu tragen und zu wagen hat wie er. Das ist
der tiefere Sinn des Ochsengespannes, des aufgezäumten Rosses und der Waffengabe. In dem Bewusstsein
solcher Gesinnung soll sie leben und dereinst sterben: Was sie empfing, habe sie makellos und unversehrt
an ihre Kinder weiterzugeben, von denen es die Schwiegertöchter erhalten und ihrerseits wieder
an die Enkel vererben sollten.
*In Wirklichkeit sind die Hochzeitsbräuche wohl nüchterner zu deuten als Tacitus es tut. Bei den Geschenken des Bräutigams
handelt es sich um eine Art Brautpreis. Diese Mitgift wurde daher ursprünglich an den Vater der Braut entrichtet. – Durch die
Übergabe eines Waffenstücks begab sich die bisher unter der väterlichen Obhut stehende Tochter in die Gewalt des Mannes.
19. Heiligkeit der Ehe
Also leben die Frauen in Zucht und Keuschheit, nicht verdorben durch lüsterne Schaustellungen oder verführerische
Gelage. Die Schreibkunst ist Männern und Frauen gleichermaßen unbekannt*. Ehebruch
kommt trotz der großen Bevölkerungszahl äußerst selten vor. Die Bestrafung** erfolgt auf der Stelle und
bleibt dem Gatten überlassen. Der schneidet der Ehebrecherin vor den Augen der Verwandten das Haar
ab, reißt ihr die Oberkleidung vom Leibe, jagt sie aus dem Hause und treibt sie mit Peitschenhieben durch
das ganze Dorf. Eine Frau, die ihre Keuschheit preisgegeben hat, findet kein Erbarmen; nicht Schönheit
noch Jugend oder Reichtum verschafft ihr einen zweiten Mann. Denn in Germanien lacht niemand über
Laster; verführen und sich verführen lassen, heißt dort nicht „dem Zeitgeist huldigen“. Besser ist es fürwahr
auch heute noch um die Staaten bestellt, in denen nur Jungfrauen heiraten dürfen und mit dem Ehegelöbnis
die Hoffnung einer Frau auf Wiederverheiratung ein für allemal ausgeschlossen ist. Wie die
Frau nur einen Leib und ein Leben hat, so erhält sie auch nur den einen Gatten; darüber hinaus soll sich
kein Gedanke, keine weitere sinnliche Begierde in ihr regen. Sie soll gleichsam nicht den Mann, sondern
den Ehestand (die Mutterschaft) lieben.
Die Zahl der Kinder zu beschränken oder eines der Neugeborenen*** zu töten, gilt als Frevel; und
durch gute Sitten wird dort mehr erreicht als anderwärts durch gute Gesetze.
*Damit auch die geheimen Liebesbriefe, die damals in den vornehmen Kreisen Roms eine große Rolle spielten.
**Der Ehebruch der Frau wurde überaus hart geahndet; dabei fand kein besonderes Rechtsverfahren statt, sondern die Frau
war der Willkür des betrogenen Gatten preisgegeben.
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***Nachgeborene sind Kinder, die zur Welt kommen, wenn ein Erbe schon da ist. Im Gegensatz zu der Darstellung des Tacitus
galt die Aussetzung oder Tötung eines Neugeborenen (sofern es noch keine Nahrung zu sich genommen hatte) als erlaubt,
wenn es ein Krüppel war, wenn es im Verdacht der Unechtheit stand oder wenn es sich um Notzeiten handelte.
20. Kinder und Erbrecht
Bei den Adeligen wie bei den Gemeinfreien wachsen die Kinder halbnackt und ohne besondere Pflege
auf; dabei erreichen sie die prächtigen Glieder und die stattlichen Körper, die wir an ihnen bewundern.
Jede Mutter nährt* ihr Kind an der eigenen Brust und überlässt es nicht der Magd oder Amme. Herrensohn
und Knechtessohn kann man in der Kindheit nicht an irgendwelcher Verzärtelung in der Erziehung
voneinander unterscheiden**: bei demselben Vieh, auf demselben Erdboden tummeln sie sich, bis das
waffenfähige Alter den Freigeborenen vom Unfreien scheidet und seine Tüchtigkeit die adelige Herkunft
erkennen lässt.
Den Liebesgenuss lernt der Jüngling erst spät kennen, deshalb ist seine Zeugungskraft ungeschwächt.
Auch bei den Mädchen nimmt man sich mit der Verheiratung Zeit***; so gleichen sie den
Jünglingen an Jugendkraft und zeigen ähnlich hohen Wuchs. Den jungen Männern an Stärke ebenbürtig,
treten sie in die Ehe; und in den Kindern spiegelt sich die Kraft der Eltern wider.
Der Bruder der Mutter**** wacht über die Kinder seiner Schwester ebenso wie der eigene Vater.
Ja, manche Stämme halten diese Bande des Blutes für noch heiliger und enger als die von Vater und Sohn
und verfahren danach, wenn sie Geiseln fordern; denn sie meinen dadurch den, der die Geiseln stellt, enger
und seine Sippe in erweitertem Umfang zu verpflichten.
Trotzdem sind aber Erben und Rechtsnachfolger bei jedermann immer nur die eigenen Kinder;
Testamente***** gibt es bei ihnen nicht. Sind keine Kinder da, so erben zunächst die Brüder und dann
die Oheime – und zwar zunächst von väterlicher, dann von mütterlicher Seite. Je mehr Blutsverwandte
einer hat, je größer die angeheiratete Verwandtschaft ist, desto liebevollerer Verehrung erfreut er sich im
Alter. Kinderlosigkeit bringen keinen Vorteil.
*In Rom wurde damals das Neugeborene von der (in der Regel griechischen) Amme gestillt; die Kinder wurden von dem
meist fremdländischen Gesinde betreut und vielfach verzogen. In dem Fehlen der mütterlichen Fürsorge und Erziehung erblickt
Tacitus (wie er im Dialog über die Rede genauer anführt) einen Hauptgrund für den römischen Sittenverfall.
**Beide wuchsen zusammen auf, spielten und hüteten gemeinsam das Kleinvieh.
***Wie es in bäuerlichen Verhältnissen der Fall zu sein pflegt, wurden auch bei den Germanen die Ehen verhältnismäßig früh
geschlossen (vgl. Cäsars Mitteilung, dass es bei den Germanen für die größte Schande galt, vor dem 20. Lebensjahr Umgang
mit einer Frau gehabt zu haben). Aber in Rom lag die Ehefähigkeit für den Jüngling bei 14, für das Mädchen bei 12 Jahren.
****Da die germanische Frau wohl durch die Sitte geschützt war, aber weniger durch das Recht, war es eine zweckmäßige
Maßnahme, dass der Bruder bei etwaigen Übergriffen des Mannes seiner Schwester beistehen konnte.
*****Das germanische Erbrecht beruhte auf der (Bluts-) Verwandtschaft, daher waren Testamente überflüssig. Später setzten
sich bei den Germanen immer stärker die römischen Rechtsanschauungen durch.
21. Fehde und Gastfreundschaft
Fehden des Vaters oder eines Verwandten müssen vom Erben ebenso mit übernommen werden wie
Freundschaften. Doch dauern jene nicht unversöhnlich fort; selbst Totschlag kann mit einer bestimmten
Anzahl von Rindern oder Kleinvieh gesühnt werden. An dem Wergeld hat die ganze Sippe Anteil. Dieser
Brauch wirkt sich zum allgemeinen Vorteil aus; denn bei der großen Ungebundenheit können Feindschaften
leicht um so gefährlicher werden.
Geselligkeit und Gastfreundschaft pflegen die Germanen so schrankenlos wie kein anderes Volk.
Irgendeinen Menschen das Obdach zu verweigern, gilt als frevelhaft. Jeder bewirtet seinen Mitteln entsprechend
den Gast, so gut er es vermag. Sind die ihm zugedachten Vorräte aufgezehrt*, dann macht der
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Wirt seinen Gast auf eine andere Unterkunft aufmerksam und gibt ihm in eigener Person das Geleit. Uneingeladen
treten beide in der nächsten Siedlung ein und werden mit der gleichen Freundlichkeit aufgenommen.
Zwischen Bekannten und Unbekannten kennt das Gastrecht keinen Unterschied. Äußert der
Gast beim Scheiden einen Wunsch, so erfordert es der Anstand, ihn zu erfüllen; mit derselben Unbefangenheit
darf auch der Gastgeber seinerseits vom Gast etwas ausbitten. Man hat an Geschenken Freude,
doch rechnet man sie dem Beschenkten nicht an; ebenso fühlt man sich durch die Annahme von Geschenken
nicht selbst verpflichtet.
*Z.B. das etwa für den Gast erlegte Wild. Im übrigen erforderte es die gute Sitte, die Gastfreundschaft nicht länger als drei
Tage in Anspruch zu nehmen. Die Begleitung zur nächsten Siedlung erfolgte, um den Gast vor Unheil zu schützen, aber auch,
um ein etwaiges Unrecht des Gastes zu verhindern.
22. Vom Leben im Hause
Unmittelbar nach dem Schlaf, der sehr häufig bis in den Tag hinein ausgedehnt wird, waschen sich die
Germanen öfter warm, da ja bei ihnen der Winter den größten Teil des Jahres ausmacht. Nach dem Waschen
nehmen sie das Frühstück ein, wobei jeder seinen Stuhl und ein besonderes Tischchen hat. Dann
gehen sie an ihre Geschäfte, doch ebenso oft zu einen Gelage*, und zwar stets in Waffen. Tag und Nacht
durchzuzechen, ist für niemanden eine Schande. Streitigkeiten, wie sie ja bei Betrunkenen leicht vorkommen,
enden selten mit bloßen Schimpfreden, häufiger mit Verletzungen oder Totschlag.
Doch auch wenn Verfeindete miteinander ausgesöhnt oder Ehen geschlossen werden sollen, wenn
jemand unter die Edelinge aufgenommen, ja sogar über Krieg und Frieden beraten werden soll, so geschieht
das zumeist bei Becherklang, als wenn der Mensch gerade dann besonders offenherzig und für
edle Gedanken empfänglich wäre. Dieses Volk, nicht verschlagen noch durchtrieben, gibt in ausgelassener
Fröhlichkeit auch heut noch die sonst tief in der Brust gehüteten Geheimnisse preis; daher liegt die
Meinung aller unverhüllt und offen da. Am nächsten Tag wird die Beratung noch einmal wieder aufgenommen.
Die Behandlung der gleichen Sache zu zwei so ganz verschiedenen Zeitpunkten hat ihren guten
Grund: Man hält Rat, wenn man sich nicht verstellen kann; man trifft die Entscheidung, wenn man – wieder
nüchtern – nicht irren kann.
*Schon die Gesprächsstoffe lassen erkennen, dass es sich hier in der Hauptsache um die Verhältnisse bei den Edelingen handelt.
Solche Trinkgelage müssen Ausnahmen gewesen sein; anderenfalls hätten die Germanen das römische Reich kaum zu
Fall bringen können. Zum Verständnis ist auch zu beachten, dass es damals noch keine Gasthäuser gab und die Geselligkeit
sich nur im Hause abspielte. Bier und andere Getränke wurden im einzelnen Haushalt von den Frauen für bestimmte Feste
hergestellt; für längere Zeit waren sie nicht haltbar. Wein konnten sich nur die Reichsten öfter leisten.
23. Vom Essen und Trinken
Als Getränk dient den Germanen ein Gebräu* aus Gerste oder Weizen, das durch Gärung in eine Art
Wein verwandelt wird. Außerdem kaufen die Anwohner des Rheins und der Donau echte Weine.
Die Speisen sind einfach: wildwachsendes Obst, frischerlegtes Wild** oder auch Quarkkäse. Ohne
umständliche Zubereitung, ohne besondere Gewürze*** wird der Hunger gestillt. Im Trinken wissen
sie weniger Maß zu halten. Würde man ihrer Trunksucht Vorschub leisten und ihnen die Möglichkeit
bieten zu trinken, soviel ihr Herz begehrt, könnte man sie durch diese ihre Charakterschwäche wohl leichter
zu Grunde richten als durch Kriege.
*Außer diesem „Bier“ verstanden sich die Germanen auch für die Bereitung von Met (gegärt aus Honig und Wasser) sowie
Obst- bzw. Beerenweinen.
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**Entsprechend dem Klima spielte die Fleischkost bei den Germanen eine größere Rolle als in Italien. Vorzugsweise wurde
natürlich das Fleisch von Haustieren verzehrt; denn Viehzucht und Ackerbau trieben die Germanen seit jeher. – Die Brotnahrung
wird von Tacitus nicht besonders erwähnt. Angebaut wurde vor allem Roggen und Hafer, aber auch Gerste, Weizen und
Flachs.
***Die Germanen würzten nur mit Salz.
24. Waffentanz und Würfelspiel
An Schauspielen kennen sie nur eine einzige Art, die bei jeder festlichen Zusammenkunft wiederkehrt.
Jünglinge mit nacktem Oberkörper führen zwischen Schwertern und drohend gefällten Lanzen einen
Tanz* auf; sie betreiben das als Sport. Durch vieles Üben ist ihre Geschicklichkeit immer größer geworden,
ihre Bewegungen immer anmutiger. Doch zeigen sie ihre Kunst nicht zum Erwerb oder für Geld –
Freude der Zuschauer ist der einzige Lohn ihrer kecken Waghalsigkeit.
Das Würfelspiel betreiben die Germanen seltsamerweise auch in nüchternem Zustande und so, als
ob es sich dabei um ernste Angelegenheiten handelte. Sie tun das mit solch blinder Leidenschaft im Gewinnen
und Verlieren, dass sie beim letzten, entscheidenden Wurf um die eigene Freiheit spielen. Der
Verlierer nimmt ohne Widerstreben das Sklavenlos auf sich. Auch wenn er der jüngere und stärkere ist,
lässt er sich binden und verkaufen; so groß ist der Starrsinn der Germanen an falscher Stelle; sie selbst
nennen das Treue. Übrigens geben sie einen auf solche Weise erworbenen Sklaven auf dem Handelswege
weiter, um sich und dem anderen Beschämung** zu ersparen.
*Ursprünglich dürfte der Waffentanz eine religiöse Feierhandlung zu Ehren des Kriegsgottes gewesen sein.
**Nämlich: dass aus dem Spielgenossen ein Sklave geworden ist. Im übrigen werden solche Fälle schon deshalb eine sehr
große Seltenheit gewesen sein, weil die Sippe des Verlierers dem Gewinner Schwierigkeiten machen konnte.
25. Die Stellung der Sklaven und Freigelassenen
Die Verwendung der anderen Sklaven erfolgt nicht in derselben Weise wie bei uns, wo die einzelnen
Dienstleistungen auf das Gesinde genau verteilt sind. Vielmehr hat jeder Sklave* Haus und Hof, wo er
frei schalten darf. Seinem Herrn muss er wie ein Pächter eine bestimmten Menge an Getreide, Vieh oder
Web- und Spinnstoffen abliefern, und nur so weit geht seine Verpflichtung. Im übrigen werden die Arbeiten
im Haushalt des Herrn von seiner Gattin und den Kindern besorgt. Es ist eine Seltenheit, wenn ein
Sklave geschlagen, gefesselt oder in Fronarbeit eingespannt wird. Eher passiert es schon, dass der Herr
einen Sklaven totschlägt. Das geschieht dann aber nicht, um dadurch eine exemplarische Strafe zu verhängen,
sondern in einer plötzlichen Aufwallung des Zornes, als wenn jemand seinen persönlichen Feind
niedersticht. Allerdings wird Totschlag an einem Sklaven nicht bestraft**.
Die Freigelassenen stehen nicht viel höher als die Sklaven. Selten besitzen sie irgendwelchen Einfluss
im Hause ihres Herrn, niemals in der Gemeinde. Eine Ausnahme hiervon bilden die Völker, die unter
straffer Königsherrschaft*** stehen: Dort steigen die Freigelassenen über die Gemeinfreien und sogar
über die Edelinge empor. Deshalb ist bei den anderen Stämmen die untergeordnete Stellung der Freigelassenen
ein Beweis dafür, dass daselbst politische Freiheit herrscht.
*Das galt wohl nur für die Hörigen, nicht für die eigentlichen Sklaven (Knechte), die meist im Hause des Herrn Dienste verrichteten.
Während aber in den reicheren Häusern Roms eine unverhältnismäßig hohe Zahl von männlichen und weiblichen
Sklaven für die Verrichtung der einzelnen häuslichen Arbeiten zur Verfügung stand, traten bei den Germanen solche Haussklaven
ungleich weniger in Erscheinung. Bei ihnen war neben der Wartung des Viehs, das Kochen, Brotbacken und Bierbrauen
im allgemeinen Sache der Frauen und Kinder, ebenso das Spinnen und Weben, das Nähen und Waschen. Der Mann übernahm
u.a. die anfallenden Schreiner- und Schmiedearbeiten, das Schlachten der Tiere, die Verarbeitung der Häute und Felle.
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An der Feldbestellung beteiligten sich sämtliche Mitglieder der Familie nach ihren Kräften, soweit die Äcker nicht den Hörigen
zu Bewirtschaftung überlassen waren.
**Rechtlich war eben auch bei den Germanen der Sklave nichts anderes als eine Sache; nur war seine Behandlung viel
menschlicher als in Rom.
***Der römische Leser dachte dabei unwillkürlich an den großen Einfluss, den Freigelassene unter manchen römischen Kaiser
zu erringen vermochte.
26. Landwirtschaft
Geld und Zinsen auszuleihen und Zinsgeschäfte* zu machen, ist den Germanen ein unbekannter Begriff;
und solche Unkenntnis ist wirksamer, als wenn Verbote beständen.
Der für den Ackerbau ausersehene Grund und Boden wird entsprechend der Zahl der vorhandenen Bebauer
von der Gesamtheit zum allgemeinen Nutzen für eine Reihe von Jahren in Besitz** genommen und
dann nach Maßgabe des Ansehens*** der einzelnen Familie zu Bearbeitung aufgeteilt****. Das geht
ohne Schwierigkeiten vor sich, das weite Landstrecken zur Verfügung stehen.
Innerhalb des jedem zugeteilten Landstückes wechseln die Bebauer alljährlich die Anbaufläche,
und immer bleibt anbaufähiges Land unbestellt. Denn die Germanen nutzen die Ergiebigkeit des Bodens
und seine Weiträumigkeit nicht durch intensive Bearbeitung aus, wie wir es tun; sie legen keine Obstpflanzungen
an und kennen weder Wiesenkultur noch Bewässerung der Gärten*****. Es wird nur Getreide
gesät; und man erwartet, dass die Erde es zur Reife bringt.
Daher unterscheiden sie auch nicht so viele Jahreszeiten****** wie wir. Nur für Winter, Frühling
und Sommer haben sie Begriff und Bezeichnung; den Herbst kennen sie weder dem Namen noch den
Gaben nach.
*Während in Innern Germaniens noch durchaus die Naturalwirtschaft (Tauschhandel) vorherrschte (vgl. Kap. 5), bestand in
Italien schon ein ausgedehntes Bankwesen mit Überweisungen, Kreditbriefen usw.
**Ob es sich bei dieser Besitznahme um bisher unbebauten Boden handelte, der von Strauchwerk und Bäumen frei gemacht
werden musste, oder etwa um erobertes Gebiet, sagt uns Tacitus nicht.
***Die Größe der Zuteilung richtet sich nach Rang und Würde des Betreffenden; wir haben es danach schon mit Anfängen
einer Individualwirtschaft und wohlgeordneten Verhältnissen zu tun. – Wenn Cäsar berichtet, die Germanen hätten keinen
Eigenbesitz an Grund und Boden gehabt, sondern die Äcker gemeinschaftlich bestellt, die Ernte geteilt und Feldmarken sowie
Wohnstätten jährlich gewechselt, so hat er offenbar Verhältnisse westgermanischer Stämme, die sich auf der Suche nach neuem
Wohnraum südwärts verschoben, verallgemeinert.
****In Italien stand den wenigen Besitzern von Riesengütern (Latifundien) die große Masse der völlig besitzlosen Proletarier
gegenüber.
*****Wie der Ackerbau, war auch der einfachere Gemüsebau den Germanen seit jeher bekannt. Aber die intensive Bewirtschaftung
des Ackerlandes, die Mehrzahl der Küchengemüse, den vereinfachten Obst- und Gartenbau sowie den Weinbau
übernahmen die Germanen erst von den Römern, wie sich aus den Namen der meisten Gartengewächse und Fruchtarten ergibt.
******Ursprünglich wurde überhaupt nur zwischen Winter und Sommer unterschieden.
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27. Totenbestattung
Bei den Leichenbegängnissen herrscht keinerlei Gepränge. Nur nimmt man darauf Bedacht, dass die Leichen
berühmter Männer im Feuer bestimmter Holzarten* verbrannt werden. Der Scheiterhaufen wird
nicht mit Teppichen und Räucherwerk überladen; seine Waffen** werden einem jeden beigegeben, bei
manchen wird auch das Ross mitverbrannt. Hochragende, kunstvolle Grabdenkmäler werden vermieden;
sie erscheinen den Germanen als eine Last für den im Grabe Ruhenden, nicht als eine Ehrung. Das Klagen
und Weinen währt nur kurz, Schmerz und Gram halten lange an. Für eine Frau schickt sich sichtbare
Trauer, für den Mann ein treues Gedenken.
Das ist alles, was ich im allgemeinen über Ursprung und Sitten der Germanen insgesamt erfahren
habe. Nunmehr will ich die Einrichtungen und Gebräuche einzelner Völkerschaften, soweit sie anders
sind, schildern und dabei auch bemerken, welche Germanenstämme nach Gallien eingewandert sind.
*Nach den Bodenfunden Eiche, Buche, Kiefer, Wacholder. – Seit dem 8. Jahrhundert v. 0 waren die Germanen von der ursprünglichen
Erdbestattung allgemein zur Leichenverbrennung übergegangen; das Christentum hatte die Feuerbestattung wieder
verboten.
**Den Frauen wurden, wie die Bodenforschung lehrt, Nadeln, Messer usw. mitgegeben, den Kindern ihr Spielzeug.
II. Teil: einzelne Stämme Germaniens
28. Nichtgermanen rechts des Rheins und links der Donau. Germanen links des Rheins
Dass die Gallier einst überlegen waren, bezeugt ein Gewährsmann ersten Ranges, der göttliche Julius
Cäsar. Man darf daher annehmen, dass auch Gallier nach Germanien hinübergezogen* sind. Denn wie
wenig hinderte der Strom, dass ein Stamm, der gerade erstarkt war, neue Wohnsitze ,einnahm, wenn sie
noch allgemein zugänglich und nicht unter königliche Gewalthaber aufgeteilt waren!
So hausten zwischen dem herkynischen Walde, dem Rhein und dem Main die Helvetier und weiter
ostwärts die Bojer, beides gallische Stämme. Der Name Boihämum ist bis heute geblieben und gibt
Kunde von der Vorzeit des Landes, wenn auch die Bewohner gewechselt haben.
Ob jedoch die Aravisker aus dem Gebiet der Oser, eines germanischen Stammes, nach Pannonien
oder die Oser von den Araviskern aus nach Germanien gewandert sind - beide Völkerschaften haben noch
heute dieselbe Sprache, dieselben Einrichtungen und Gebräuche - steht nicht fest; denn ehedem bot das
Land nördlich wie südlich der Donau bei gleicher Armut und Unabhängigkeit dieselben Vorzüge und
Nachteile.
Die Treverer und Nervier rühmen sich allzu sehr ihres Anspruchs auf germanische Herkunft, als
schlösse schon ein solcher Adel des Blutes die Verwechslung mit gallischer Schlaffheit aus. Am Rheinufer
selbst wohnen unzweifelhaft Germanenstämme: die Vangionen, Triboker und Nemeter. Auch die
Ubier schämen sich ihres Ursprungs nicht, obwohl ihnen ihre Verdienste die Stellung einer römischen
Kolonie eingebracht haben und sie sich lieber nach der Gründerin ihrer Stadt als Agrippinenser bezeichnen.
Sie haben vor Zeiten den Rhein überschritten und wurden, da ihre Treue sich bewährte, unmittelbar
am Ufer angesiedelt, als Wächter, nicht als Bewachte.
*Die römischen Schriftsteller gingen von der irrigen Vorraussetzung aus, dass Gallien (Frankreich) die Urheimat der Kelten
sei. In Wirklichkeit verhält es sich so, dass die ursprünglich im westlichen Mitteleuropa wohnenden Kelten sich vor den aus
dem Norden und Nordosten andrängenden Germanen in langen Zeiträumen immer mehr nach Süden und Südwesten zurückziehen
mussten; dabei sind versprengte Reste der Kelten unter germanischer Herrschaft zurückgeblieben.
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29. Rechtsrheinische Germanen im Verband des römischen Reiches. Zehntland
Von allen diesen Stämmen sind die Bataver am tapfersten. Sie bewohnen einen Streifen am linken Ufer
und in der Hauptsache die Rheininsel. Ursprünglich ein Zweig der Chatten, zogen sie wegen inneren
Zwistes in die jetzigen Wohnsitze, wo sie dem römischen Reiche einverleibt werden sollten. Die Ehre und
Auszeichnung alter Bundesgenossenschaft hat bis heute Bestand; denn kein Zins demütigt sie, und kein
Steuerpächter presst sie aus. Frei von Lasten und Abgaben und einzig Kampfzwecken vorbehalten, werden
sie wie Wehr und Waffen für Kriege aufgespart.
In gleicher Abhängigkeit steht der Stamm der Mattiaker. Denn die Hoheit des römischen Volkes
hat sich auch jenseits des Rheines und jenseits der alten Reichsgrenzen Achtung verschafft. So haben sie
Gebiet und Wohnsitz auf germanischer Seite, doch Herz und Gesinnung bei uns. im übrigen gleichen sie
den Batavern, nur dass Bodenbeschaffenheit und Klima ihres Landes sie mit noch größerer Lebhaftigkeit
begabt haben.
Nicht zu den Völkerschaften Germaniens möchte ich die Leute rechnen, die das Zehntland*
bebauen, wenn sie sich auch jenseits von Rhein und Donau angesiedelt haben; gallisches Gesindel und
aus Not Verwegene eigneten sich den umstrittenen Boden an. Bald darauf wurden der Grenzwall angelegt
und die Wachen vorgeschoben; seither gilt das Gebiet als Vorland des Reiches und Teil der Provinz.
*Die Grenze zwischen dem römischen Reich und den Germanen wurde im allgemeinen durch Rhein und Donau gebildet (vgl.
Kap. 1). Zur Abkürzung des durch beide Flüsse gebildeten Winkels besetzten aber die Römer das nur dünn bevölkerte Gebiet
nördlich der oberen Donau und nannten es – wohl nach dem Zehnten, den die Pächter von dem Ernteertrag zu entrichten hatten
– das Zehntland. Dann riegelten sie es nach dem freien Germanien hin durch einen Grenzwall (Limes) ab, der ungefähr bei
Rheinbrohl-Hönningen begann und bei Kelheim an der Donau endete (Länge etwa 500 km). Dieses Zehntland wurde (ebenso
wie die linksrheinischen Provinzen Ober- und Niedergermanien) mit der Zeit römische Kulturlandschaft.
30. Chatten (1)
Weiter nördlich beginnt mit dem herkynischen Walde das Land der Chatten; sie wohnen nicht in so flachen
und sumpfigen Gebieten wie die übrigen Stämme, die das weite Germanien aufnimmt. Denn die
Hügel dauern an und werden erst allmählich seltener, und so begleitet der herkynische Wald seine Chatten
und endet mit ihnen.
Bei diesem Volk sind kräftiger die Gestalten, sehnig die Glieder, durchdringend der Blick und
größer die geistige Regsamkeit. Für Germanen zeigen sie viel Umsicht und Geschick: sie stellen Männer
ihrer Wahl an die Spitze, gehorchen den Vorgesetzten, kennen Reih und Glied, nehmen günstige Umstände
wahr, verschieben einmal einen Angriff, teilen sich ein für den Tag, verschanzen sich für die Nacht;
das Glück halten sie für unbeständig und nur die eigene Tapferkeit für beständig. Und was überaus selten
und sonst allein römischer Kriegszucht* möglich ist: sie geben mehr auf die Führung als auf das Heer.
Ihre Stärke liegt ganz beim Fußvolk, dem sie nicht nur Waffen, sondern auch Schanzzeug und Verpflegung
aufbürden; andere sieht man in die Schlacht ziehen, die Chatten in den Krieg.
Selten kommt es zu Streifzügen und nicht geplantem Kampf. Es ist ja auch die Art berittener
Streitkräfte, rasch den Sieg zu erringen und rasch wieder zu entweichen; doch Schnelligkeit grenzt an
Furcht, Zögern kommt standhaftem Mute näher.
*Die Chatten ahmten zwar Roms Kriegskunst nach, lehnten aber sonst im Gegensatz zu den in Kap. 28 und 29 genannten
Germanen jeden römischen Einfluss ab.
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31. Chatten (2)
Ein Brauch, der auch bei anderen germanischen Stämmen vorkommt, jedoch selten und als Beweis vereinzelten
Wagemuts, ist bei den Chatten allgemein üblich geworden: mit dem Eintritt in das Mannesalter
lassen sie Haupthaar und Bart wachsen*, und erst, wenn sie einen Feind erschlagen haben, beseitigen sie
diesen der Tapferkeit geweihten und verpfändeten Zustand ihres Gesichtes. Über dem Blut und der Waffenbeute
enthüllen sie ihre Stirn und glauben, erst jetzt die Schuld ihres Daseins entrichtet zu haben und
des Vaterlandes sowie ihrer Eltern würdig zu sein. Die Feigen und Kriegsscheuen behalten ihren Wust.
Die Tapfersten tragen überdies einen eisernen Ring** - sonst eine Schande bei diesem Stamme -
wie eine Fessel, bis sie sich durch Tötung eines Feindes davon befreien. Vielen Chatten gefällt dieses
Aussehen, und sie werden grau mit ihren Kennzeichen, von Freund und Feind gleichermaßen beachtet.
Sie eröffnen jeden Kampf; sie sind stets das vorderste Glied, ein befremdender Anblick; denn auch im
Frieden nimmt ihr Gesicht kein milderes Aussehen an. Keiner von ihnen hat Haus oder Hof oder sonstige
Pflichten; wen immer sie aufsuchen, von dem lassen sie sich je nach den Verhältnissen bewirten; sie sind
Verschwender fremden und Verächter eigenen Gutes, bis das kraftlose Alter sie zu so rauhem Kriegerdasein
unfähig macht.
*Der freie Germane trug langes Haar, das er natürlich pflegte (Kämme und Schermesser sind durch Bodenfunde als Grabbeigaben
erwiesen). Die Besonderheit bei den Jungmannen der Chatten bestand darin, dass sie Haupt- und Barthaar wild wachsen
und ungekämmt ins Gesicht hängen ließen. Erst nach Erlegung eines Feindes strichen sie ihr Haar aus der Stirn und pflegten es
von da an.
** Durch die Anlegung des eisernen Ringes weihte sich der Krieger gleichsam zum Knecht des Kriegsgottes; doch wir wissen
nicht, ob es sich dabei um einen Hals- und Armreifen handelte oder um einen Fingerring.
32. Usiper und Tenceterer
Den Chatten zunächst, wo der Rhein noch ein festes Bett hat und als Grenzscheide genügt, wohnen die
Usiper und Tenkterer. Die Tenkterer überragen den üblichen Kriegsruhm durch ihre vorzüglich geschulte
Reiterei, und ebenso großes Ansehen wie das Fußvolk der Chatten genießt die Reitertruppe der Tenkterer.
So führten es die Vorfahren ein und halten es auch die Nachkommen; hierin besteht das Spiel der Kinder,
hierin der Wetteifer der Jugend und die ständige Übung der Alten. Wie das Gesinde, der Wohnsitz und
alle Rechte der Nachfolge vererben sich auch die Pferde; ein Sohn empfängt sie, doch nicht, wie alles
andere, der erstgeborene, sondern jeweils der streitbarste und tapferste.
33. Bructerer, Chamaver und Angrivarier
In der Nähe der Tenkterer stieß man einst auf die Brukterer; jetzt sind, wie es heißt, die Chamaver und
Angrivarier dorthin gezogen. Denn die verbündeten Nachbarstämme hatten die Brukterer geschlagen und
gänzlich ausgerottet, aus Erbitterung über ihren Hochmut oder aus Beutelust oder weil die Götter uns eine
Gunst erzeigten; denn sie gewährten uns sogar das Schauspiel der Schlacht. Über 60 000 sind dort gefallen,
nicht durch römische Wehr und Waffen, sondern, was noch erhebender ist, ganz zu unserer Augenweide*.
Es bleibe**, so flehe ich, und bestehe fort bei diesen Völkern, wenn nicht Liebe zu uns, so doch
gegenseitiger Hass; denn bei dem lastenden Verhängnis des Reiches kann das Geschick nichts Besseres
mehr darbieten als die Zwietracht der Feinde.
*Vom hochgelegenen Lager Xanten aus konnten die Römer tief ins Bructererland hineinblicken, Zuschauern gleichend, die
sich an Gladiatorenspielen erfreuen.
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** Das deutsche Grundübel der Uneinigkeit hat schon Tacitus zutiefst erfühlt. Ebenso hat er früher als andere die vom Norden
her dem römischen Imperium drohende Gefahr vorausgesehen und war darum von schwerer Sorge für dessen Fortbestand
erfüllt.
34. Dulgubnier, Chasuarier und Friesen
An die Angrivarier und Chamaver schließen sich südostwärts die Dulgubnier und Chasuarier an sowie
andere, weniger bekannte Stämme; im Norden

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      ...n. 429 setzten sie nach Nordafrika über und gründeten dort ein Reich, das 534 unterging. Vandilier (Wandilier): Im 1. Jahrhundert eine Gruppe von östlichen Germanenstämmen. Der Name wurde anscheinend von den V...